Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
nicht locker. «Ich rieche solches Pack wie dich. Seht ihr da draußen am Horizont das Schiff? Es folgt uns seit Tagen. Was glaubt ihr, was das ist?»
Pawel Alexandrowitsch schaute in die Richtung. Doch er konnte nichts erkennen, sosehr er auch die Augen hinter den dicken Brillengläsern zusammenkniff. Ohne Brille war er praktisch blind. Mit Brille sah er in der Ferne nur das, was er kannte. Aber es musste wohl so sein, da draußen kreuzte ein Schiff.
«Wisst ihr es nicht? Ich will es euch verraten: Es ist eine Fregatte, und die wartet nur darauf, dass es hier losgeht. So schnell könnt ihr gar nicht gucken, wie die den Pott versenkt haben. Es wäre nicht der erste.»
Der Mann machte eine lange Pause, dann sprach er weiter. Nachdenklicher. Leiser.
«Die Gefängnisse sind voll. Die Lager übervoll. Da kommt ihnen ein versunkener Kahn gerade recht. Während wir die Fische füttern, kriegen die Matrosen an den Geschützen eine Sonderration Wodka. Also …»
Das klang überzeugend. Die hitzige Stimmung kühlte sich merklich ab. Schließlich zerstreuten sich die Meuterer. Die Fahrt ging ohne Zwischenfälle weiter. Einmal glaubte auch Pawel Alexandrowitsch, am Horizont so etwas wie ein Schiff zu sehen. Aber darauf schwören? Nein, das hätte er nicht getan.
Das war vor fünf Jahren. Lange her. Nun saß er in Kotlas auf einer Holzbank im Wartesaal, eine Postkarte vor sich, und suchte nach Worten. Er fand sie nicht. Und dabei hatte er so viele Jahre Zeit, sich die paar Zeilen zu überlegen. Immer wieder flüsterte er:
«Liebe Nina, liebe Lena!»
Wie gern hätte er auch «liebe Anna» geschrieben.
Aber Anna war tot.
Auch wenn die Nachrichten, die ihn nach seiner Verhaftung erreichten, spärlich waren, eines wusste er: Die Genossen hatten die Jahre nach seiner ersten Verbannung in die Wälder an der Pinega nicht ungenutzt verstreichen lassen. Was früher undenkbar schien, selbst unter dem Zaren unmöglich, das war nun Normalität geworden: Sippenhaft.
Ein böses Wort. Böse und gemein, wie die Kreaturen, die sie anordneten. Gleich nach ihm hatten sie dieses Mal auch seine Frau verhaftet. Die fern jedweder Politik nur ein Verbrechen begangen hatte: mit einem «Feind des Volkes» verheiratet zu sein. Er liebte sie, sie liebte ihn, mehr gab es nicht zu sagen. Es drehte ihm das Herz um, wenn er nur an sie dachte. Anna. Anna, meine Liebe. Sie bezahlte mit ihrem Leben. Ein Leben, das er eigentlich besser machen wollte. Er war bereits Bolschewik, da wussten die meisten, die ihn später verhörten, nicht einmal, was das ist. Pawel Alexandrowitsch trat 1907 in die Partei ein. Da war er siebzehn, voller Zuversicht, voller Hoffnung auf eine gerechtere Welt.
Doch das zählte nichts mehr. Schlimmer noch: Es machte ihn verdächtig. Was? Sie kannten Lenin? Haben sogar mit ihm Tee getrunken? Schön, schön. Wen kannten Sie noch? Auch Leo Trotzki? Da haben wir doch den Richtigen gegriffen. Er wurde verhaftet. Dann holten sie seine Frau. Die Misshandlungen im Gefängnis überlebte Anna nicht.
Ihre beiden Töchter blieben allein. Er mochte sich den Schmerz der Mädchen nicht ausmalen, ihre Tränen, ihre Sehnsucht. Er tröstete sich nur mit dem Gedanken, dass seine jüngere Schwester noch da war. Nüsja, ein zupackender Mensch, ließ nicht zu, dass die Kinder in ein Waisenhaus kamen. Die Große, Nina, blieb bei ihr. Nüsja und Nina verstanden sich, sie waren beide vom gleichen Schlag, aufgeschlossen, neugierig auf die ganze Welt. Lena, seine Jüngste, zerbrechlich, dafür umso eigensinniger, wurde von Annas Bruder aufgenommen. Der und seine Frau verwöhnten das Mädchen nach Kräften. Selbst hatten sie keine Kinder.
«Ich bin auf dem Weg.»
Er flüsterte die Worte. Das war die Botschaft. Mehr musste auf der Karte nicht stehen.
«Ich bin auf dem Weg.»
Nur diese fünf Wörter.
Er war frei. Er fuhr zu ihnen, zu seinen Kindern. Er würde sich im Süden eine Arbeit suchen, und vor allem würde er sich um die Mädchen kümmern. Eine kleine Familie. Nicht eine wie die anderen, denn es wird immer jemand fehlen. Anna. In seine Freude mischte sich wieder dieser dumpfe Schmerz, er war nicht vergangen in all den Jahren, sie fehlte ihm so sehr. Aber er hatte ja seine Mädchen. Die brauchten ihn. Ein guter Vater wollte er sein, damit sie diese verlorenen Jahre, diese schrecklichen Jahre, wo sie allein waren, vergessen könnten. Erst werden sie die Schule beenden. Natürlich mit guten Noten. Dann werden sie studieren. Ja. Seine beiden
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