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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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nicht grüßen, die sich zu seinem Empfang als feierliches Spalier aufgestellt hatten.
    Die letzten Meter schlichen sie im Schritttempo. Verschlafen blickte er aus dem Fenster. Eilende Passagiere, Säcke, Koffer, Hühner, dazwischen die gewaltigen Aufbauten der Gepäckträger, die mit ihren Wägelchen flink und rücksichtslos die Vorfahrt erzwangen: Der Jaroslawler Bahnhof hatte sich nicht verändert. Noch immer hatte man hier das Gefühl, halb Russland fahre gerade irgendwohin, während die andere Hälfte gerade von dort kam. Und wo traf man sich? Natürlich in Moskau.
    Ihr Waggon ruckte ein letztes Mal und blieb unter fürchterlichem Quietschen stehen. Das Gedränge an der Tür mochte Pawel Alexandrowitsch nicht, er wartete, bis sich der erste Schwung Fahrgäste auf den Bahnsteig ergoss. Das Fenster war schmutzig. Offensichtlich war die Schaffnerin zu hübsch, als dass sie sich mit Fensterputzen beschäftigen wollte. Er nahm ein liegengebliebenes Laken und wischte den Staub von der Scheibe. Mit Verwunderung bemerkte er, wie sich die eben ausgestiegenen Menschen um einen Aushang am Ende des Bahnsteigs versammelten. Plötzlich schien alles Getriebe angehalten, die Passagiere verharrten wie versteinert, erfroren ihre Heiterkeit. Stumm standen sie und lasen.
    So etwas hatte er noch nicht gesehen und konnte es sich auch nicht erklären. Als er endlich aus dem Waggon stieg, war es kaum möglich, sich durch die erstarrte Masse hindurchzuzwängen.
    «Was ist passiert?», fragte er einen Mann mit einer blauen Schiebermütze auf dem Kopf und einem Sack auf dem Rücken.
    «Wojna! Krieg! Die Deutschen haben Kiew bombardiert.»
    «Krieg? Also doch.» Nein, es war keine wirkliche Überraschung. Der Krieg hatte sich angekündigt, seit Tagen und Wochen. Nur im Kreml schien man das nicht begriffen zu haben. In Workuta hatten sie viel darüber gesprochen. Über die Chancen, ihn zu bestehen. Und natürlich auch darüber, dass das Land nach den Wellen der Verhaftungen praktisch wehrunfähig war. Die wichtigsten Militärs waren erschossen oder saßen in Gefängnissen und Lagern. Die Wirtschaft lebte von Sklavenarbeit. Die Militärtechnik war hoffnungslos veraltet. Das Einzige, was sich prächtig entwickelte, war der Glaube: der Glaube, dass Stalin alles sieht, alles kann, alles weiß. Doch davon würden sich die Waffen der Deutschen kaum beeindrucken lassen.
    Er versuchte, sich so schnell wie möglich einen Weg durch die Menschenmenge Richtung Ausgang zu bahnen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass der Bahnhof für einen wie ihn, einen «Ehemaligen», jetzt kein guter Ort war. Der NKWD hatte nicht nur eine schlagkräftige und personell gut bestückte Vertretung auf jedem nennenswerten Knotenpunkt im Land. Die Bahnhöfe in Moskau waren im Grunde Außenstellen der Lubjanka. Mit eigenen Gefängniszellen und eigenen Richtern, die Menschen aus dem endlosen Strom der Passagiere herausgriffen und sie in der Schattenwelt des Gulag verschwinden ließen. Langes Zögern konnte verhängnisvoll sein.
    Fast hatte er die Empfangshalle hinter sich gelassen, da sah er sie. Sie standen im Dunkeln neben dem weit geöffneten Eingangstor, durch das ein unglaublich blauer Himmel hereinstrahlte. Vier Uniformierte, die sich über einen Mann hermachten. Sie sahen ihn auch.
    Der Offizier, der gerade noch mit Interesse die Papiere des Festgehaltenen prüfte, schob sie verächtlich einem der Soldaten zu und eilte Pawel Alexandrowitsch entgegen. Pawel Alexandrowitsch drehte sich um, er würde jetzt einfach in eine andere Richtung gehen. Doch es war zu spät. Er fühlte die Hand auf seiner Schulter, noch ehe er sich zwischen den Passagieren verlieren konnte.
    «Bürger!», klang es hinter seinem Rücken. «Bürger! Sie können gleich weiter. Wir haben nur ein paar Fragen.»
    Pawel Alexandrowitsch blieb stehen, drehte sich langsam um, schob die Hand von seiner Schulter. Sie schauten sich in die Augen. Obwohl er den Mann noch nie in seinem Leben gesehen hatte, kam er ihm auf ekelhafte Weise bekannt vor. Mit seinem wässrigen Blick, diesem anmaßenden Ausdruck im Gesicht, der unerschütterlichen Gewissheit, über Leben und Tod entscheiden zu können.
    «Woher kommen Sie? Ihre Papiere.»
    Pawel Alexandrowitsch schwieg. Holte langsam die Entlassungspapiere heraus. Durch seinen Kopf schossen Lorenz’ Worte, der ihn immer wieder beschworen, ja ihm eine richtige Rede zum Abschied gehalten hatte:
    «Fahren Sie nicht, Pawel Alexandrowitsch. Es riecht nach Krieg. Bleiben Sie in

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