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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Mädchen würden studieren.
    Er hatte das nicht gekonnt. Ein paar Jahre Klosterschule mussten reichen, mehr gönnte ihm das Leben nicht. Oder der Vater. Aber es war auch egal, es gab keinen anderen Weg für ihn. Er führte in die Gießerei. Sein Vater, Alexander Alexandrowitsch Alförow, verunglückte, ein Gussteil zerquetschte sein rechtes Bein. Danach war er ein Krüppel. Er begann zu trinken. Der Nachbar fand sich dazu. Morgens, noch ehe es richtig hell wurde, verlangten sie nach dem ersten Glas. Die Hände zitterten, dass sie den Wodka nicht eingießen konnten. Die Mutter musste es tun. Dann senkten die Männer den Kopf zum Glas und fassten es mit den Zähnen. Nach den ersten «sto Gramm» verging der Schüttelfrost langsam.
    Allen war klar, der Junge musste Geld verdienen. Sonst wären sie verhungert. Die Mutter, die jüngere Schwester, der Vater. Gießer, das hieß schwere Arbeit. Aber Gießer, das war auch ein angesehener und vor allem ein gut bezahlter Beruf. Ob Pawel Gießer werden wollte, fragte keiner. Da war er vierzehn, und es war 1904.
    Heute ist es anders. Das wusste Pawel Alexandrowisch ganz genau. Seine Mädchen würden studieren. Früher wäre das nicht denkbar gewesen. Nicht für seine Kinder. Aber jetzt. Der Traum, sein Traum, würde sich erfüllen. Etwas hatten sie ja doch geschafft mit ihrer Revolution.
    «Bis Moskau sind es nur zwei Tage», schrieb er auf die Karte. Dieser zweite Satz war kurz. Eigentlich belanglos, ohnehin nur Geschwätz. Geschwätz, wie er es nicht mochte. Weckte falsche Hoffnungen. Vielleicht dauerte es ja auch länger. Wer konnte in Russland schon sagen, wann und wo ein Zug ankäme oder nicht. Für die Kinder wäre es nicht gut, wenn sie warteten und niemand stiege auf dem Bahnsteig aus. Weil sich der Zug verspätete. Weil sie ihm in Moskau keine Fahrkarte für den Anschlusszug verkaufen wollten. Weil … Weil … Weil …
    Es war noch viel Platz auf der Karte. Sicher, alles nicht so wichtig, was er da jetzt noch schreiben wollte. Aber er konnte doch die Karte nach all den Jahren nicht halb leer auf den Weg schicken. Er tauchte die Feder wieder in das Tintenfass.
    «Wenn alles gutgeht, kriege ich einen Anschlusszug in den Süden. Dann bin ich in einer Woche wieder bei Euch.
    Es grüßt Euer Vater.
    Kotlas, 20. Juni 1941»
    Er wartete, bis die Tinte trocken war. Klebte eine Briefmarke in die rechte obere Ecke und steckte das Stück Karton in den blauen Briefkasten. Natürlich landete die Nachricht erst einmal auf dem Sortiertisch des Geheimdienstes. Sie würden lange in den paar dürren Zeilen nach einer verborgenen Botschaft suchen. Das wusste er.
     
    Am anderen Ende des Waggons hörte man plötzlich laute Schreie. Obwohl es ein Schlafwagen war, gab es keine Abteiltüren. Alles war offen. Die Reihen der Doppelstockbetten standen einmal quer und einmal längs zu den Fenstern, dazwischen der mit Koffern und Säcken vollgestellte Durchgang. So hörte jeder jeden, was besonders in der Nacht für alle, die einen leichten Schlaf hatten, zur Qual wurde.
    Die Aufregung ging von einem hageren Mann mit gezwirbelten Bartenden und weißem, wehenden Haar aus. Er rannte barfüßig, nur mit einem Hemd und dicker grauer Unterhose bekleidet durch den Gang und schrie:
    «Genossen, Genossen! Hurensöhne! Man hat mich im Schlaf bestohlen! Hose und Stiefel, weg! Am helllichten Tag! Wo leben wir eigentlich, Genossen?»
    Und ohne eine Antwort abzuwarten, donnerte er weiter:
    «Ich verlange, dass man mir die Hose zurückgibt! Ich kann doch in Moskau nicht ohne Hose dastehen?! Ich bin Veteran des Bürgerkriegs! Ich habe gegen Wrangel mein Blut vergossen! Und sie bestehlen mich! Mich! Genossen, wo leben wir eigentlich? Haben diese Menschen kein Kreuz unter ihrem Hemd? Diese Hurenböcke, dreimal verflucht sollen sie sein …»
    «Die mit dem Kreuz, die sitzen woanders …», rief ihm ein Mann aus dem Abteil nebenan hinterher und biss in ein bleiches Hühnerbein. Gemeinsam mit seinem Bettnachbarn hatte er ein russisches Stillleben am Fenster aufgebaut: ein Fläschlein Wodka mit zwei Gläsern. Gerade waren sie dabei, den ersten Schluck hinunterzukippen. Der Tumult lenkte sie ab. Nun, da der Alte den Waggon unter Gelächter verlassen hatte, vollendeten sie ihr Werk.
    Pawel Alexandrowitsch zog seinen Buschlat über die Schultern, lehnte sich zurück in die Ecke zwischen Fenster und Sitzbank, die gleichzeitig als Bett diente, und schlief ein. Auch wenn es ihm leidtat. Im Schlaf konnte er die Birken

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