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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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getaut hatte, ragten die kahlen Stümpfe in den Himmel.
    Nach einer Woche beherrschte der Hunger alles. Jedes Gespräch. Jeden Gedanken. Selbst die Träume. Lorenz wachte hungrig auf. Lorenz schleppte sich hungrig in die Taiga. Lorenz schlief hungrig ein. Die Sterberate schnellte nach oben. Selbst die kräftigen, die lagererfahrenen Männer wussten keinen Ausweg mehr.
    Nur einer Brigade ging es besser. Deren Mitglieder erfreuten sich bester Verpflegung, auch wenn man sie nicht mehr und besser arbeiten sah. Und das Woche für Woche. Lorenz ließ das keine Ruhe. Die Stämme sahen aus wie ihre, bei der Abnahme gab es keine Besonderheiten. Nur in der Küche wussten sie Bescheid, die Brigade hatte den «sozialistischen Wettbewerb um die beste Planerfüllung» schon wieder gewonnen.
    Lorenz kam ein Verdacht. Alle zehn Tage musste der Brigadier einen Bericht über die geleistete Arbeit abgeben. Das sollte nicht einfach eine sachliche Anhäufung nackter Zahlen sein. Diese alte kapitalistische Sichtweise auf die Produktion hatte man im Sowjetland längst hinter sich gelassen, schließlich ging es um den Aufbau des Kommunismus. Auch im Lager. Selbst wenn es sich um Häftlinge handelte – auf das richtige Bewusstsein kam es an. Und der Einzige, der das begriffen hatte, war offensichtlich der Chef der satten Brigade.
    So ging Lorenz zum Buchhalter. Er wolle den Bericht der Vorbilder lesen, um zu lernen, versteht sich. Der lehnte ab, wo käme man hin, wenn jeder Häftling nach Gutdünken in den Unterlagen rumschnüffeln dürfte. Aber der Kommandant, der mit dem Buchhalter gerade die Weltlage besprach, hatte einen guten Tag und freute sich über den wissbegierigen Deutschen. So bekam Lorenz die Genehmigung. Schon nach den ersten Zeilen wusste er, da war ein Künstler am Werk. Im blumigsten Parteijargon rühmte der Brigadier der Satten die Taten seiner sechzig Männer. Wo bei den anderen nur spärliche Zahlen standen, fand man bei ihm einen ganzen Roman. Kurzum, die einfachsten Dinge erschienen als edles Heldentum. Bestverpflegung war das Mindeste, was die Brigade dafür erwarten durfte. So ließ sich das Leben eher ertragen. Vor allem wenn man die anderen hungrigen Gestalten um sich herum sah.
    Nachdenklich kehrte Lorenz in die Baracke zurück. Da saßen die Strategen seiner Brigade und klagten über eine ungerechte Welt, die den Bedürftigen das wenige nahm und den Satten im Überfluss gab.
    «Hol sie der Teufel, die haben bestimmt jemanden in der Schreibstube bestochen», vermutete einer.
    «Hast du gesehen, was für einen Berg Kascha die auf den Tellern hatten?», stimmte ein anderer zu. «Ich hab heute genau aufgepasst, wie viele Stämme sie zum Fluss bringen. Kannst mir glauben, keinen mehr als wir. Und doch fressen die sich satt, und wir hungern. Hast du schon mal im Lager solche fetten Fressen gesehen? Ich nicht! Höchstens bei der Wochra.»
    «Da kann man nichts machen», seufzte der Brigadier. «Blat wysche, tschem narkomat!» Mit dem gängigen Spruch «Beziehungen sind wichtiger als das Volkskommissariat» wollte er die Männer erheitern. Es gelang nicht. An diesem Abend erntete er nur unwilliges Knurren.
    «Ganz so ist es nicht», sagte Lorenz nach einer Weile.
    Die Runde schaute ihn an.
    «Was willst du damit sagen?», raunte der Brigadier.
    «Ich will sagen, man kann sehr wohl etwas tun.»
    «Und was sollte das sein?» Der Brigadier reagierte gereizt.
    «Das hat nichts mit Beziehungen zu tun.» Lorenz überhörte den drohenden Unterton.
    «Womit denn sonst?»
    «Auch nichts mit der Leistung der Brigade.»
    «Sondern?»
    «Mit der Leistung des Brigadiers.»
    «Was soll der Blödsinn? Das ist doch nur dummes Gerede. Alle arbeiten gut, nur ich arbeite schlecht? Wer soll das glauben?»
    «Das habe ich nicht gesagt. Du arbeitest wie alle anderen. Aber …»
    «Aber …? Was aber?»
    «Aber du schreibst die falschen Berichte.»
    «Falsch? Was soll daran falsch sein? Die Berichte sind so, wie Berichte sein müssen. Davon werden es nicht mehr Kubikmeter.»
    «Wäre schön, wenn’s so wäre. Ich hab’s mir selbst angesehen. Die arbeiten vielleicht sogar weniger als wir, haben aber dafür die besseren Berichte. Du kennst doch das schöne russische Wort ‹Pokasucha›. Das heißt, man tut so, als ob, und das noch viel schöner, als es im richtigen Leben sein kann …»
    «Männer, wir sollten dem Schwätzer nicht länger zuhören.»
    «Langsam, Brigadier. Da scheint doch was dran zu sein. Wir sehen es ja: Die sind satt,

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