Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Lebenserwartung.
Jedenfalls ging Lorenz mit seinem Packen Zeitungen beschwingt davon. Er fragte sich, wie beschränkt Funktionäre nur sein können. Der Politruk schien allen Ernstes zu glauben, sie würden nun in der Baracke den Aufbau des Kommunismus diskutieren. Dabei brauchte er für den Bericht nur ein paar Phrasen aus der «Prawda», die neuesten Losungen und Hymnen auf Stalin, der nach dem ersten Schock des Kriegsausbruchs wieder zu Kräften kam.
Das Prinzip der «Schapka», also der politischen Mütze, die praktisch auf jedem wissenschaftlichen Text saß, ob er die Entstehung der Arten, die Aufzucht von Schweinen oder das Leben von Pilzen und Bakterien behandelte, hatte Lorenz noch an der Universität gelernt. Gespickt mit Zitaten von Lenin, Marx und Stalin, entschied die «Schapka» oft genug darüber, ob jemand ein großer Wissenschaftler wurde oder ein kleines Licht blieb. Was unter einer gelungenen politischen Mütze an Neuem, gar Bahnbrechendem steckte, blieb oft genug zweitrangig.
Lorenz holte sich am Ofen einen Blechbecher mit heißem Wasser und legte los.
«Die faschistische Hydra hat ihr Haupt erhoben, um den Hort des Menschheitsfortschritts, die Sowjetunion, zu vernichten. Aber die Sowjetmenschen werden siegen! An der Front und hinter den Frontlinien. Wir, die Brigade 3 des ‹Lesopowal› an der Ussa, sind diese Woche wie ein Mann aufgestanden, um unseren Beitrag im ruhmreichen Kampf des Vaterlandes zu leisten.
Unsere Gewehre sind die Äxte!
Unsere Geschütze sind die Sägen!
Unsere Panzer sind die Holzstapel, die den Himmel stürmen!
Gemeinsam mit der ruhmreichen Roten Armee werden wir den barbarischen Feind in die Knie zwingen! Jeder frischgeschlagene Stamm wird ein Pfahl im Fleische der Faschisten sein. Unter den mächtigen Schlägen Mütterchen Russlands werden die Hitler-Horden zerbröseln. Über dem Reichstag wird das rote Tuch wehen. Und wir, die Brigade 3 des ‹Lesopowal›, werden die Fahnenstange liefern.»
Es folgten die üblichen Zahlen – die geschlagenen Festmeter Holz, der Krankenstand, die Abgänge infolge Dahinscheidens – und alles, was sonst noch passierte. Die Woche war nicht besser als die vorangegangene. Aber auch nicht schlechter.
Am Morgen gab Lorenz das Papier mit wichtiger Miene beim Kommandanten ab. Der wunderte sich, dass es mehrere Blätter waren, nicht wie sonst nur eins. Lorenz musste seine aufsteigende Heiterkeit unterdrücken. Nein, kein Grund zum Lachen, schließlich ging es ums Überleben. Was spielten da schon ein paar lächerliche Worte, ein paar Übertreibungen und Phrasen für eine Rolle.
Es war ein kalter, grauer Tag, an dem es wieder einmal nicht hell werden wollte und selbst der Platz am Feuer kaum Wärme gab. Vielleicht bildete er es sich ein, aber Lorenz hatte bei der Arbeit das Gefühl, von den anderen Gefangenen beäugt zu werden. Jetzt, wo er die Verantwortung für das Projekt «Extra-Kessel» übernommen hatte, wurde ihm mulmig. Es war schon schwer genug, für sich allein zu sorgen. Nun hatte er bei allen Hoffnung genährt und konnte nur darauf vertrauen, dass sein Plan aufging. Das würde sich spätestens bei der Essenausgabe am Abend zeigen.
Auf dem Rückmarsch zum Lager zog sich der Tross für gewöhnlich Hunderte Meter in die Länge. Viele der Waldarbeiter waren so ausgezehrt, dass sie kaum gehen konnten. Doch dieses Mal war es anders. Selbst einige von denen, die allenfalls noch humpelten, trabten plötzlich, angetrieben von einer wunderbaren Hoffnung.
Lorenz wurde es immer unheimlicher.
Nachdem die erste und die zweite Brigade abgefertigt waren, kam auch für die Brigade 3 der Augenblick der Wahrheit. Anton, ein Wolgadeutscher, hatte sich kraft seiner Statur an allen vorbei an die Spitze der Warteschlange geschoben. Er tauchte bis über beide Arme ins Ausgabefenster der Stolowaja ein. Man hörte seinen Bass und die Erwiderung aus der Küche. Lorenz, der sich hinten angestellt hatte, konnte die Anspannung kaum noch ertragen. Der alte Brigadier schaute feindselig. Er hatte die Kränkung nicht verwunden.
Anton tauchte aus dem Fensterchen der Essenausgabe auf. Glücklich klemmte er sich das Schwarzbrot unter den Arm. Ein Kilo Brot? Das war mindestens der dritte «Kessel». Sie hatten es geschafft. Der Hüne lief mit Kastenbrot und einer Schüssel Suppe selig lächelnd an Lorenz vorbei.
«Brigadier, du bist unsere Rettung!» Er strahlte wie ein Kind. «Es ist der Spezialkessel. Und nach der Suppe gibt es noch Kascha. Aus
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