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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Workuta. Sie sind hier anerkannt und geachtet. Bei Freund und Feind. Sie haben die Gießerei aufgebaut und sind jetzt ihr Natschalnik. Als Freien wird man Ihnen hier nichts tun. Unten im Süden, da ist es anders.»
    Sie redeten lange. Pawel Alexandrowitsch ließ sich nicht beirren. Er war frei. Er wollte zu seinen Kindern. Jetzt wusste er: Der Deutsche hatte recht behalten. Die Hoffnung, nach der Freilassung unbehelligt nach Hause zu kommen, erwies sich als trügerisch.
    «Aha … Ach, so ist das …», der NKWD-Leutnant steckte den «Wolfspass» in seine Brusttasche. Wolfspass, das Entlassungspapier eines Häftlings. Hier stand unmissverständlich, dass der Besitzer für längere Zeit gesessen hatte.
    «Folgen Sie uns!» Er wies in Richtung eines Zwischengangs und winkte zwei Soldaten herbei. «Sie wissen doch. Es ist Krieg. Und da können natürlich solche Elemente wie Sie nicht frei herumlaufen.»
    Er öffnete eine Tür, die von einem bewaffneten Soldaten bewacht wurde. Pawel Alexandrowitsch trat in einen stickigen, von Menschen überfüllten Raum. Es war vorbei. Sie hatten ihn. Sie würden ihn wieder einsperren. Seine Freiheit währte nur eine kurze Bahnfahrt. Der Rest ging schnell. Einer der NKWD-Offiziere, die im Nebenzimmer residierten, zerriss seine Papiere und stellte lakonisch fest, dass es für ihn nur ein Reiseziel gebe, und das heiße Workuta.
    «Mit welcher Begründung werde ich verhaftet?»
    «Es ist Krieg», antwortete der Mann. «Das ist Grund genug!»
    «Für wie lange? Wie lange sperren Sie mich ein?»
    «Das kann Ihnen niemand sagen.»
    Noch in der Nacht ging es mit einem Viehwaggon wieder in den Norden. Nina sollte ihren Vater nie wiedersehen.

II
    Lorenz wusste, dieser Tag würde kommen. Und danach wäre alles anders als bisher. Er stand wie so oft am Morgen als Erster in der Werkstatt und blies das Schmiedefeuer an. Das war der schönste Moment des Tages. Die rote Glut wurde hell und heller, tauchte schließlich den ganzen Raum in einen warmen Schein.
    Dann ging die Tür auf, Sidorow, ein Schlosser aus der Werkstatt, schrie:
    «Krieg! Es ist Krieg! Hitler hat Russland überfallen!»
    Der Junge konnte sich nicht beruhigen. Immer wieder schrie er dieses verdammte Wort: Krieg.
    Es geschah, was geschehen musste: Nicht nur Hitler, nicht nur die Nazis waren Schuld am Krieg. Sondern alle Deutschen, die in der Sowjetunion lebten. Die Wolgadeutschen eingeschlossen. Und je schlechter die Lage an der Front wurde, umso schlimmer wurde vor allem die Behandlung der Reichsdeutschen. Mit einem Schlag verloren sie alle Posten, auch wenn dadurch die Produktion stockte, das Land auf diese Weise zusätzlich geschwächt wurde.
    Wenige Tage nach Kriegsausbruch kam der Hauptingenieur in die Baracke und verlas mit unbeteiligter Stimme eine Liste von Namen. Ausnahmslos von Deutschen. Sie sollten alles liegen- und stehenlassen und mitkommen. Lorenz stand nicht auf der Liste. Als der Produktionschef schon gehen wollte, sprach er ihn an.
    «Iwan Petrowitsch, was ist los? Alle sind Deutsche …»
    Der Hauptingenieur knurrte nur:
    «Lorenz, hängen Sie Ihren Kopf nicht freiwillig in die Schlinge. Glauben Sie mir, es war ein hartes Stück Arbeit, die Dummköpfe zu überzeugen, dass Sie Holländer sind. Wie lange das geht, weiß der Himmel.»
    Es ging genau vier Wochen. Man brauchte ihn noch. Unter ihm arbeitete die Werkstatt reibungslos wie nie zuvor. Das hieß Planerfüllung für das große Sowjetland und ein ruhiges Leben für die Chefs. Wer bei Verstand wollte das freiwillig aufgeben?
    Der NKWD wollte.
    Sie kamen zu zweit, in ihren dunkelblauen Uniformen. Er musste seine Sachen packen. Er war der letzte Deutsche in der Baracke.
    Es ging auf Etappe ins Waldlager zum Holzeinschlagen – Lesopowal – am Fluss Ussa. Bäume hatte Lorenz lange nicht gesehen, mit fast zärtlicher Erinnerung dachte er an den Wald daheim, so winzig und zerzaust, wie er nah bei der Kokerei stand. Er dachte an den stolzen Dobermann und seinen Bruder Erich, der die besten Pfeile schnitzen konnte. Er dachte daran, wie sie unter den Bäumen lagen und in den Himmel schauten. Doch in der Taiga waren die Bäume keine Freunde, es waren geschundene Kreaturen wie die Männer. Nun wusste er auch, warum die Hügel am Fluss mit mannshohen Baumstumpen verunstaltet waren, wie er sie entlang der Petschora auf dem Weg nach Workuta gesehen hatte. Sie schlugen die Bäume in Höhe des Schnees. Lag der anderthalb Meter hoch, dann eben in dieser Höhe. Wenn es

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