Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
wir nicht.»
«Also, entweder das Gerede hört mir sofort auf. Oder …»
«Was heißt hier ‹Oder›? Wir haben dich gewählt, wir können dich auch absetzen.»
«Ach, so ist das? Ich reiß mir hier den Arsch auf, und der schnüffelt hinter meinem Rücken.»
«Ich sage nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Unsere Berichte sind so schlecht wie die der anderen Brigaden. Mit einer Ausnahme eben. Und denen geht es besser.»
«Wenn du alles besser weißt, mach doch den Dreck alleine!»
Der Brigadier sprang auf und ging weg vom Feuer. Die anderen schauten Lorenz an. Bis zu diesem Moment wusste er, Brigadier werden, das wollte er auf keinen Fall. Nicht selten entschied der Chef einer Brigade über Leben und Tod. Wer macht die miese Arbeit? Wer wird geschont? Fragen, die sich jeden Morgen stellten. Er wollte sie nicht beantworten müssen. Aber es war zu spät.
«So, Lorenz, nun bleibt dir nichts anderes übrig, als den Brigadier zu machen. Wollen doch mal sehen, ob du im Schreiben so gut bist wie im Reden.»
Noch am Abend stimmte die Brigade ab. Lorenz wurde gewählt. Er hatte die Revolte angestoßen. Nun konnte er nicht zurück.
Einen Tag vor der Abgabe des nächsten Berichts ging er nicht wie üblich nach der Rückkehr aus dem Wald gleich in die Stolowaja-Kantine, um seine spärliche Ration in Empfang zu nehmen, sondern zuerst hinüber zur Lagerleitung. Denn für gewöhnlich machte die keine Überstunden. Der Politoffizier und der Buchhalter saßen beieinander, hatten es warm und redeten über dies und das. Lorenz fragte, ob es denn möglich sei, sich eine frische «Prawda» auszuleihen oder zumindest die letzte Nummer, die das Lager erreicht hatte. In der Baracke würde viel über Politik diskutiert, aber oft ohne Sachkenntnis und richtigen Standpunkt. Da täte etwas Zeitungslektüre gut.
Der Politruk schaute ihn erst verwundert, dann begeistert an. Die politische Arbeit im Lager war eine mühselige Angelegenheit. Die Gefangenen stellten sich stur und unbelehrbar. Weder wollten sie bessere Menschen werden noch einsehen, dass es nur zu ihrem Wohl war, dass sie hinter Stacheldraht saßen. Doch endlich schien es einer begriffen zu haben. Der Parteihäuptling rannte in sein Zimmer. Zurück kam er mit einem ganzen Packen. «Prawda», «Iswestija», «Trud» – alles, was er finden konnte.
Mehr noch als über die bevorstehende lehrreiche Lektüre freute sich Lorenz, dass nun auf Wochen das nötige Papier für die Notdurft gesichert war. Natürlich galt es, vorsichtig zu sein. Denn bei den vielen Stalin-Porträts in den Zeitungen musste man genau darauf achten, mit welcher Seite man seinen Hintern abwischte. Wie sehr das Scheißen ein politischer Vorgang sein konnte, hatte er schon einmal erlebt.
Irgendein armer Kerl hatte es nicht bis zu den Latrinen geschafft. Oder er war einfach nur ein Dreckschwein, pinkelte und schiss, wo es ihm gerade einfiel. Jedenfalls hatte der Kerl seinen Haufen mit einem Stück Prawda verziert, auf dem das Bildnis des geliebten Führers prangte. Es herrschten klare Frosttage. Das heißt, die Bedingungen dafür, dass möglichst viele Leute den Frevel sahen, waren optimal. Das Kunstwerk gefror, und jeden, der zur Latrine ging, sah Stalin mit verschmiertem Gesicht an. Irgendwann bekam auch die Lagerleitung Wind davon. Sofort rückte ein Trupp Kanalarbeiter aus.
Am Abend musste die gesamte Lagerbesatzung zum Appell antreten. Es wurde gedroht und geschrien. Der Lagerchef versicherte, man werde den Saboteur finden und ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Da man jedoch keine Fingerabdrücke nehmen konnte und sich freiwillig niemand zu der Tat bekannte, ließ die Wochra die dreihundert Mann zur Strafe stundenlang im Frost stehen. Solche Strafen waren das Todesurteil für geschwächte Häftlinge, aber das spielte keine Rolle. In der Lagerlogik hieß es, wer umfiel und erfror, hätte den Winter ohnehin nicht überlebt.
Schließlich setzte der Kommandant eine Belohnung aus für jeden, der einen brauchbaren Hinweis liefern konnte. Es winkte ein Monat lang beste Verpflegung. Eine unendliche Versuchung. Aber nichts, keiner wurde gemeldet. Der Täter war offensichtlich bei dem Vorgang allein gewesen. Sicher hätte man auch jemanden einfach so ans Messer liefern können, Menschen wurden schon für weit weniger verraten. Aber so ein Abendessen mit Fleisch und Nachtisch konnte man nicht heimlich verspeisen. Alle hätten sehen können, wer der «Klopfer» war. Die hatten im Lager keine hohe
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