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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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übrig. Der Tod arbeitete in diesem Winter im Akkord. Da es unmöglich war, für all die Toten Gräber in den Frostboden zu hacken, wurden sie in einer der beiden Baracken abgelegt. Die noch Lebenden drängten sich in der anderen. Niemand erschrak mehr, wenn am Morgen der Pritschennachbar kalt neben ihm lag. Einige waren so verzweifelt, dass sie lieber den schnellen Tod suchten, als weiter darauf zu warten, wann es endlich so weit sei. Max, ein Österreicher, ging einfach auf das Lagertor zu und reagierte auf keinerlei Warnungen der Wochra. Die Wachleute machten sich einen Jux daraus, ihn laufenzulassen. Als wollten sie ihm vor dem Tod noch einmal das Gefühl der Freiheit gönnen.
    Dann schossen sie.
    In den Rücken.
    Die meisten anderen starben lautlos. Ob die Häftlinge dem Zynismus oder der allgegenwärtigen Korruption zum Opfer fielen, ließ sich nicht ergründen. Die Abgeschiedenheit des Speziallagers und der Hass auf alles Deutsche begünstigte das Wegschauen. So konnte es sich die Lagerleitung leisten, nicht nur das Übliche an Brot, Kohl, Hirse und das, was es sonst noch gab, zu verschieben, sondern sie verlor dabei jegliches Maß. Für die Toten wurde nach guter altrussischer Tradition weiter kassiert. Das hieß, die Verstorbenen lebten wie Gogols «Tote Seelen» in den Kontorbüchern, den Bestellungen und Berichten der Lagerverwaltung weiter. Es wurden für sie Jacken, Hemden, Stiefel geordert. Was man selbst nicht brauchte, ließ sich zu Geld machen.
     
    Waren es zehn oder vielleicht doch zwölf Wochen, die inzwischen vergangen waren? Niemand wusste es. Jedenfalls war mit diesem Morgen der Tag gekommen, an dem die Häftlinge nicht mehr von ihren Holzpritschen aufstanden. Und keine Drohungen, keine Schläge, keine Fußtritte vermochten daran etwas zu ändern. Nun musste selbst der Lagerchef unverrichteter Dinge abziehen. Sosehr er auch fluchte, er verstand nicht, was hier gerade geschah. Apathisch lagen die Gefangenen auf ihren Plätzen.
    Die Zeit zog sich zäh. Drei, vier Stunden. Nichts passierte. Zumindest nichts von Bedeutung. Willi Pasmannek, der direkt neben dem Fenster lag, kratzte in das dicke Eis ein Guckloch und gab den anderen durch, was er erkennen konnte.
    «Der Kommandant geht rüber zur Totenbaracke.»
    «Der Kommandant prüft das Schloss an der Tür des Leichenhauses.»
    «Der Kommandant kommt zurück.»
    «Der Kommandant spricht vor der Tür der Lagerleitung mit dem Arzt.»
    «Der Kommandant flucht, er verschwindet im Kontor.»
    Willi verstummte. Es folgte eine lange, unerträglich lange Pause. Dann setzte die Kommentierung wieder ein.
    «Der Kommandant kommt aus seinem Häuschen.»
    «Die Wochra schwärmt aus, Richtung Lagertor.»
    «Es tut sich was. Ich sehe einen Zug, mindestens fünf Loren rollen auf das Lager zu.»
    Die letzte Nachricht riss alle, die sie hören konnten, aus der Lethargie. Wer im Gedränge am kleinen Fenster noch Platz bekam, kratzte sich ein Stück Scheibe frei. Dennoch sah es Willi als Erster:
    «Auf den Loren sitzen Soldaten. Mit Gewehren. Mindestens dreißig Mann. Es ist das Kommando. Die werden uns erschießen …»
    Schlagartig wurde es still. Nur ein Baptist murmelte leise ein Gebet. Er nahm Abschied von der Welt. Lorenz schaute zu ihm hinüber. Das war wieder der Moment, wo er Menschen um ihren Glauben nur beneiden konnte. Sie hatten wenigstens einen Trost. Für die anderen gab es keinen. Ein paar Gramm Blei treffen auf weniger als sechzig Kilogramm Mensch. Das war’s.
    Als sie sich am Morgen verabredet hatten, nicht zur Arbeit auszurücken, gehörte er keineswegs zu jenen, die dafür waren. Er ahnte die Konsequenzen. Dabei hätte er in der Werkstatt vielleicht bis zum Frühling durchgehalten. Und wer konnte schon sagen, was dann wäre. Aber die meisten anderen hatten diese Hoffnung nicht mehr. Sie würden verrecken, heute, morgen.
    Sollte er aufstehen, weggehen, weg in die Werkstatt? Hier ging es verdammt noch mal um sein Leben. Er hatte nur das eine, und er wollte nicht sterben, nicht hier. Und doch blieb er.
    «Die Soldaten springen ab. Die Soldaten warten vor dem Lagertor. Ein Offizier begrüßt den Lagerchef.» Willi setzte ungerührt seine Schilderung fort.
    «Achtung!»
    «Sie kommen!»
    Die Barackentür flog auf, ein Trupp Uniformierter marschierte, eisige Luft nach sich ziehend, zur Mitte des Raumes. Der NKWD-Leutnant stellte sich neben den Ofen, schaute über die Reihen der Pritschen.
    «So, ihr seid also die Deutschen, die nicht arbeiten wollen?

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