Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Episode. Schon bald ging es von der Ussa zurück an die Workuta.
Abschied von den Bäumen.
Mit dem Vorrücken der Wehrmacht wurde die Lage der Deutschen im Land, ob noch frei oder bereits eingesperrt, immer schwieriger. In Workuta isolierten die Wachen sie sofort von den anderen Gefangenen und brachten sie in ein Speziallager nahe dem Schacht Nr. 7. Schon beim Marsch dorthin kroch das Gerücht durch die Kolonne, man werde sie umbringen, dort in der Einöde, wo es keine Zeugen gab. So wie im Jahr 1937, als Trotzkisten und Menschewiki in einem abgeschirmten Areal zusammengetrieben und erschossen wurden. Diese hatten es gewagt, gegen die unmenschlichen Haftbedingungen und für die Anerkennung ihres Status als politische Gefangene zu streiken. Das konnte der NKWD nicht durchgehen lassen.
Alarmiert durch den Zwischenfall, eilte damals aus der Zentrale in Moskau eine Kommission nach Workuta. Die Kontrolleure mussten nicht lange nach einer Erklärung suchen: Die Ermordung Hunderter Gefangener, das konnte nur ein Akt der Willkür sein. Nun war so ein Lager kein Ort, an dem Gesetze etwas galten, doch mitunter hielt es die Obrigkeit für angebracht, den Blutrausch allzu eilfertiger Staatsdiener zu bremsen. Die ergriffenen Maßnahmen entsprachen ganz und gar dem Geist der Zeit. Jenes Exekutionskommando, das die Streikenden niedergemäht hatte, erschoss kurz darauf den Lagerchef samt seiner unmittelbaren Helfer.
Die Erinnerung an das Blutbad lebte im Lager weiter.
So schlichen dreihundert Männer entkräftet durch das Dämmerlicht des Polartages. Vor ihnen die Tundra, reglos und kalt, am Horizont, wie ein dünner Strich, die Ausläufer des Ural-Gebirges. Das Sonderlager bestätigte ihre Befürchtungen. Es bestand aus drei Baracken: zwei für die Häftlinge und eine für die Lagerleitung, in der sich zugleich die Küche und das Lebensmittellager samt Sanitätsstelle befanden. Es gab weder Strom noch Wasser. Zum Kochen und Waschen nahmen sie Schnee, der in Kesseln geschmolzen wurde. Wenigstens gab es Kohle, obwohl der Schacht noch nicht produzierte. Eine Schmalspurbahn verband das Quartier der Aussätzigen mit der übrigen Lagerwelt.
Die Mehrzahl der Gefangenen wurde zum Vortrieb des Schachtes abkommandiert, Lorenz in die mechanische Werkstatt. Auch hier war alles primitiv. Kein Vergleich zu seiner Arbeit bei der Bahn. Dennoch machte es einen gewaltigen Unterschied, ob man draußen im Freien zu Beton gefrorenen Abraum mit Hacke und Schaufel wegschabte oder in einer vor Wind und Frost geschützten Schmiede stand. Es war einer der Arbeitsplätze, die einem das Leben retten konnten.
So war es bei Horst, einem jungen Mann aus Berlin. Sein Vater, Max Seydewitz, galt als einer der angesehensten linken Sozialdemokraten. Die Söhne mussten aus Deutschland fliehen; in Moskau wurden sie unter der aberwitzigen Anschuldigung verhaftet, sie wollten einen Ableger der Hitlerjugend gründen. Horst kam nach Workuta, sein Bruder Frido an die Kolyma. Lorenz brauchte den Burschen nur anzuschauen: In seiner Verfassung würde der keine drei Wochen im Schacht überleben. So versuchte er alles, ihn in die Werkstatt zu holen. Vielleicht war es ein Wunder, vielleicht Zufall, irgendwie schaffte er es. Ab sofort stand Horst am Schmiedefeuer. Sicher war er nicht der begnadete Handwerker, das gab er in seiner bescheidenen Art jederzeit offen zu. Woher sollte er auch das nötige Wissen haben? Nach seiner Flucht aus Deutschland hatte er nur eine kurze Ausbildung in einem Moskauer Betrieb erhalten. Aber Horst war absolut zuverlässig und ein Landsmann. Zu zweit ließ sich vieles besser ertragen.
Wenige Tage nach dem Eintreffen im Sonderlager wurde die tägliche Brotration auf unter 300 Gramm herabgesetzt. Damit war das Gerücht, die Deutschen sollten umgebracht werden, zur Gewissheit geworden. Mit dem winzigen Stückchen Brot und einer trüben Wassersuppe gab es kein Überleben. Das Speziallager sollte also für die erste Welle deutscher Häftlinge in Workuta das Ende sein. Zwei weitere Wellen würden folgen. Die der Kriegsgefangenen, beginnend mit der verlorenen Schlacht bei Stalingrad, und die der neuen Politischen, die nach dem Krieg im sowjetisch besetzten Osten Deutschlands von der Straße weg verhaftet wurden.
Die Lage am Schacht Nr. 7 spitzte sich schnell zu. Entkräftet, schafften immer weniger Gefangene den täglichen Anmarschweg durch die Schneewehen zur Arbeit. In wenigen Wochen war von den dreihundert Gefangenen nur noch ein Drittel
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