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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Ihr wittert wohl Morgenluft! Ihr denkt wohl, euer Führer ist nicht mehr weit und ihr könnt ihm die Kohle des Nordens zum Geschenk machen. Aber da habt ihr euch verrechnet! Ich, Leutnant Morosow, ich werde euch lehren, was Befehlsverweigerung heißt. Wer nicht sofort aufsteht, wird erschossen.»
    Der Offizier wiederholte langsam das Wort.
    «E r s c h o s s e n!»
    Er schaute von Gesicht zu Gesicht.
    «Habt ihr das verstanden? Oder braucht ihr einen Dolmetscher? Vor dem Tor stehen dreißig Rotarmisten und warten auf den Befehl. Also, was ist? Wollt ihr immer noch nicht arbeiten?»
    Die Gefangenen schauten den Mann mit angsterfüllten Augen an. Doch keiner rührte sich. Obwohl jeder, selbst jene, die kaum Russisch verstanden, wusste, was er gesagt hatte. Morosow verharrte einen Moment, schlug nervös seine in der rechten Hand zusammengelegten Lederfäustlinge in die offene Handfläche der linken und war bereits im Begriff zu gehen, da meldete sich doch jemand zu Wort. Erich Sternberg, der Lagerarzt. Unbemerkt hatte er im Gefolge der Offiziere die Baracke betreten.
    Sternberg war eine internationale Kapazität auf dem Gebiet der Psychiatrie. Er kam als Spezialist in die Sowjetunion, weil er schon frühzeitig wusste, was ihn als Juden in Deutschland erwartete. Eines hatte er nicht bedacht: Deutscher und Jude, das war auch im stalinistischen Sozialismus eine fast tödliche Mischung. So fand er sich, statt in einem deutschen KZ, in Workuta wieder. Als Gefangener. Doch seine Dienste als Mediziner wurden gebraucht. Auch wenn er oft genug nur das Ende eines gequälten Lebens bescheinigen konnte.
    «Genosse Morosow, darf ich Sie für einen Augenblick unter vier Augen sprechen? Ich glaube, ehe Sie den Befehl geben, sollten Sie etwas wissen …»
    Auf die Einmischung des Arztes reagierte der Lagerchef empört:
    «Genosse Hauptmann, was wollen Sie diesem Schwätzer zuhören?», fuhr er dazwischen. «Der Arzt ist auch nur ein Deutscher. Der steckt doch mit den Meuterern unter einer Decke. Schreibt jeden krank, der einen Schnupfen hat, und ich kann zusehen, wie der Plan …»
    «Ich bin nicht nur Deutscher, sondern auch Jude. Und mit Sicherheit warte ich nicht darauf, dass mich Hitler befreit», erwiderte Sternberg. Er sprach leise, doch jeder verstand seine Worte. «Also, hören Sie mich an, Genosse Morosow, nur ein paar Sätze, dann können Sie immer noch entscheiden.»
    Der Leutnant blickte vom Lagerleiter zum Arzt und zurück.
    «Gut. Wir gehen raus. Sie warten.»
    Er drehte sich um, den misstrauischen Blick des Lagerchefs im Rücken. Sternberg folgte ihm. Durch die winzigen Gucklöcher auf den vereisten Scheiben sah Willi, wie sie zur Leichenbaracke gingen.
    Der Offizier winkte einen Wachmann heran und ließ das Vorhängeschloss öffnen.
    Was dort passierte, schilderte der Arzt später so:
    «Noch in der Tür war der Offizier fest entschlossen, den starken Mann zu spielen.
    ‹Zu welchem Hundepimmel schleppen Sie mich hierher? Was soll schon in der Baracke sein?›
    Doch dann standen wir vor den Pritschen, auf denen übereinandergestapelt die steifgefrorenen Körper lagen. Gleich neben der Tür starrten uns die gefrorenen Augen an. Morosow war entsetzt. Der Anblick traf ihn unvorbereitet, was er da sah, ging ihm an die Nieren. Er war verwirrt und suchte eine Erklärung. Ich gab sie ihm:
    ‹Hier liegen zwei Drittel der Insassen des Lagers. Gestorben in wenigen Wochen. Eine solche Sterberate kannte ich bisher nicht, und ich bin schon einige Jahre hier oben im Norden.›
    ‹Wie kam es dazu?›, fragte der Leutnant.
    ‹Das wissen Sie doch. Von zweihundert Gramm Brot am Tag kann man nicht leben …›
    ‹Zweihundert Gramm? Und wo ist der Rest?›
    ‹Das weiß nur der Lagerchef. Und noch eins: Das sind hier zwar fast alles Deutsche, aber sie hassen die Faschisten nicht weniger als Sie. Von denen wartet keiner darauf, dass ihn die Wehrmacht befreit. Da will auch keiner streiken. Die Männer sind fertig. Ob sie jetzt erschossen werden oder in einer Woche krepieren, es kommt auf das Gleiche heraus. Es liegt an Ihnen, den korrupten Natschalnik zu belohnen und die Männer zu erschießen. Ich wüsste, was zu tun ist. – Vielleicht ist es sogar besser, erschossen zu werden.›
    Für eine Weile sagte keiner etwas. Die toten Augen starrten durch uns hindurch.
    ‹Das ist eine neue Lage›, antwortete der NKWD-Mann schließlich. Offensichtlich regte sich etwas in ihm. Jedenfalls sprach er auf dem Rückweg aus dem Leichenhaus kein

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