Schwarzes Prisma
das hatten. Die Unsichtbarkeit dieses Luxins war der Grund, warum Ultraviolettwandler im Bereich der Nachrichtenübermittlung eingesetzt wurden. Hinzu kam, dass jede Satrapie außerdem an jeder Methode der Verschlüsselung, Verzerrung und Versiegelung solcher Botschaften interessiert war, um sicherzustellen, dass nur dazu Befugte sie würden öffnen, entschlüsseln und lesen können. Für eine Weile war das spaßig. Aber den Spaßfaktor hatten sie vor sehr, sehr langer Zeit überschritten.
»Ihr wisst, wofür Ultraviolett sich hervorragend eignet?«, fragte Gavin. »Um Menschen zu Fall zu bringen.« Sämtliche Schülerinnen der Klasse grinsten schuldbewusst. Sie alle hatten das bei der einen oder anderen Gelegenheit schon getan. »Nein, im Ernst. Die Streiche sind die Methode, mit der ihr lernt, eure Farbe auf eine Art und Weise einzusetzen, an die niemand sonst bisher gedacht hat. Ihr müsst ein wenig unartig sein, um Geschichte zu schreiben. Versiegeltes Ultraviolett ist nicht so stark wie Blau oder Grün, aber es wiegt fast nichts, und, bei Orholam, es ist unsichtbar!« Gavin wandelte ein hohles, ultraviolettes Ei von der Größe seiner Hand. Er zuckte einen Moment lang zusammen, als bereite ihm irgendetwas Schmerzen. »Der Trick mit Gelb, Liv, besteht darin zu verstehen, wie es seine Macht freisetzt. Also werde ich in der Mitte dieses Eis flüssiges Gelb wandeln.« Er tat es. »Wichtig dabei ist, absolut keine Luft innerhalb des Behälters zurückzulassen. Er muss restlos gefüllt sein.« Er schloss das Ei, während er die Mädchen ansah und ohne ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte soeben eine Luftblase im Ei gelassen. Es war ihm nicht aufgefallen.
»Wenn es restlos gefüllt und absolut luftdicht ist, dann könnt ihr es sogar schütteln, und …«
Liv hob die Hand und öffnete den Mund, aber sie war zu langsam.
Gavin schüttelte das Ei. Es explodierte mit einem blendenden Blitz.
Alle warfen sich zu Boden.
Bevor Liv auch nur die Augen geöffnet hatte, hörte sie Gavin lachen. War er wahnsinnig? Sie blickte auf, aber sein Haar war nicht einmal zerzaust. »Also«, sagte Gavin. »Wenn dieses Ei aus blauem Luxin gewesen wäre, wären wir, als es zersprang, alle in Stücke geschnitten worden. Aber wie ihr alle wisst – wenn auch eure Herzen und eure Körper es nicht zu wissen scheinen –, zerfasert Ultraviolett sehr leicht. Nicht dass es nicht nützlich sein könnte.« Mit einer Schnelle und Geschicklichkeit, die Liv den Atem raubten, wandelte er ein weiteres Ei und füllte es mit flüssigem, gelbem Luxin.
»Kommt wieder hoch«, befahl er der Klasse. Ana weinte leise. Sie hatte sich bei ihrem Sturz das Knie aufgeschürft, und es blutete. Geschah ihr ganz recht, was musste sie auch so einen kurzen Rock tragen. Die übrigen Mädchen standen auf, rückten ihre Stühle zurecht und nahmen Platz. Ana blieb liegen. »Steh auf«, befahl Gavin ihr. »Du wirst in wenigen Monaten eine Wandlerin sein. Du willst dich wie eine Frau benehmen? Du bist ja noch nicht einmal bereit, dich wie eine Erwachsene zu benehmen.«
Der Peitschenhieb seiner Worte traf Ana hart, aber jedes Mädchen in der Klasse fühlte das Brennen. Seine Feststellung galt ebenso für Liv, wie sie für Ana galt. Sie wandte den Blick von Ana ab und begriff, wie leicht sie jetzt an ihrer Stelle hätte sein können. Für einen Moment durchzuckte sie ein Stich des Mitgefühls für das Mädchen, dann verdrängte Ärger darüber, dass sie so empfand, das Mitgefühl. Ana hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht.
Gavin warf eine Strähne Ultraviolett gen Himmel. Es war so leicht, dass der Wind es in westlicher Richtung vom Turm wegwehte, aber solange Gavin das Luxin offen hielt und es stützte und immer mehr und mehr hineinwandelte, konnte er es höher hinaufschicken, und er tat es, sehr schnell. Dann hielt er das gelbe Ei an den Luxin-Faden, machte es mit Schlaufen daran fest und ließ es in die Höhe stiegen.
Das Ei glitt an der unsichtbaren Linie entlang. An seinem Scheitelpunkt, etwa siebzig Meter entfernt, explodierte es mit einem scharfen Knall. Tief unter sich hörte Liv Menschen im Innenhof voller Staunen und Überraschung aufschreien.
»Nun stellt euch vor, ich hätte das auf eine vorrückende Linie von Pferden gerichtet. Es würde nicht jeden auf der Stelle töten, aber Pferde mögen es ebenso wenig wie zimperliche Mädchen, wenn ihnen etwas um die Ohren fliegt.«
In dem plötzlichen, gequälten Schweigen erbleichten einige Mädchen,
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