Schwarzes Prisma

Wahrheit wird sich nicht ändern, auch wenn ich sie in Seide und Spitze packe. Und nun zu Nummer vier. Es heißt, Orholam selbst beobachte jede Initiation. Zu scheitern bedeutet, ihn zu enttäuschen, Bauernjunge. Bist du bereit?«
    Wenn Kip scheiterte, würde man ihn von der Insel wegschicken. Er würde nicht nur den Mann beschämen, der ihm das Leben gerettet hatte, er würde seine einzige Chance auf Vergeltung gegen den Mann verlieren, der das Leben seiner Mutter genommen hatte.
    Kip würde nicht scheitern. Eher würde er sterben.
    Eisenfaust sah den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Gut.«
    Die großen Tore vor Kip kräuselten sich abermals, die geschmolzenen, irisierenden Farben wiegten sich sachte und schienen sich dann nach links und rechts zu ergießen. Es war, als sei etwas Gewaltiges aus unvorstellbaren Tiefen an die Oberfläche getreten. Kip blieb das Herz stehen, als ein riesiges Gesicht erschien, so schnell, dass er nicht einmal alle Einzelheiten aufnehmen konnte, nur weißes Haar, Augen wie Sterne und Wasser in jedem Farbton, das von diesem Gesicht wegstrebte, während es auftauchte – und den Mund öffnete, eine weit aufklaffende Höhle der Schwärze, die die Tore verschlang. Kip zuckte zusammen, weil es aussah, als wolle der Mund ihn verschlucken.
    Das Tor wurde von innen aufgerissen, als habe ein Riese es zerschlagen. Ein Luftschwall strich über Kip hinweg.
    »Tritt ein«, befahl Eisenfaust.
    Kip ging allein in einen runden Raum. Die Wände und der Boden waren von dem gleichen rauchig-klaren Kristall wie die Tore. Sieben Gestalten standen in einem Halbkreis um eine schwarze, in den Boden eingelegte Scheibe. Kip zögerte, und keine der Gestalten bewegte sich. Niemand sagte ihm, wo er hingehen sollte.
    Die Gestalten waren in Roben gewandet, eine für jede Farbe. Die ultraviolette trug eine violette Robe, die infrarote trug eine dunkelrote Robe um jener willen, die ihre Farbe nicht sehen konnten. Aber als Kip die Augen weitete und dann verengte, sah er, dass der Infrarote tatsächlich Hitze verströmte und dass der Ultraviolette in seine Farbe gewandet war: Hartes ultraviolettes Luxin war wie Ringe eines Kettenhemds miteinander verbunden.
    Immer noch unsicher ging Kip auf sie zu. Als er näher kam, konnte er unter ihre Kapuzen schauen. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Infrarot hatte geschwärzte Haut. Keine Augenbrauen. Kein Haar. Kleine Flammensträhnen züngelten um seinen Kopf. Das Gesicht von Grün war knorrig wie eine alte Eiche, die Augenbrauen wie Moos, das Haar durchflochten mit Farnen. Blau sah aus wie geschliffenes Glas, die Züge entweder glatte Flächen oder scharf wie die Spitzen eines Kristalls.
    Gütiger Orholam, waren all diese Leute Farbwichte? Dann blinzelte Orange. Kip bemerkte die Augen. Er bemerkte ihrer aller Augen.
    Es waren maskierte, geschminkte Wandler. Sie repräsentierten die Wichte einer jeden Farbe. Sieben verschiedene Varianten von Tod und Ehrlosigkeit. Kip begann wieder zu atmen, obwohl er ein kleines Zittern nicht kontrollieren konnte. Er trat auf die schwarze Scheibe den Wandlern gegenüber.
    »Ich bin Anat, ich bin Zorn«, sagte Infrarot. »Ich werde verzehrt von Wut.«
    »Ich bin Dagnu, ich bin Völlerei«, sagte Rot. »Mich kann man niemals füllen.«
    »Ich bin Molokh, ich bin Habgier«, sagte Orange. »Ich kann niemals befriedigt werden.«
    »Ich bin Belphegor, ich bin Faulheit«, sagte Gelb. »Ich halte meine Talente zurück.«
    »Ich bin Atirat, ich bin Begierde«, sagte Grün. »Mich verlangt es immer nach mehr.«
    »Ich bin Mot, ich bin Neid«, sagte Blau. »Ich kann das Glück anderer nicht ertragen.«
    »Ich bin Ferrilux, ich bin Stolz«, sagte Ultraviolett. »Ich würde Orholams Thron usurpieren.«
    Dies waren die Namen der alten Götter. Kip hatte sie kaum je einmal gehört.
    »Dies sind die Zerrbilder unserer Natur.«
    »Die Versuchungen der Macht.« Die Stimmen erklangen der Reihe nach, glatt, einander überlappend, wie ein einziges Bewusstsein.
    »Denn ohne die Beherrschung unserer selbst werden wir zu Ungeheuern.«
    »Schändlich und beschämt, verborgen in der Dunkelheit.«
    »Aber wir sind die Söhne und Töchter Orholams.«
    »Wir sind Orholams Gaben, Ausdruck seiner Liebe.«
    »Sein Gesetz.«
    »Seine Barmherzigkeit.«
    »Seine Wahrheit.«
    »Daher stehen wir unbeschämt da, gewandet in seine Gerechtigkeit.«
    Infrarot trat vor, zog seine Maske herunter und stieg aus seiner Robe. Er war ein junger Mann, muskulös, gutaussehend und nackt. »Wenn