Schwarzes Prisma
ersparen, dass mehr von Euren Männer von der Mauer fallen als von ihren. Diese Bereiche auf der Mauerkrone müssen größer sein, damit Ihr mehr Pulver für die Kanonen dort lagern könnt. In dieser Zeichnung findet sich kein Platz für die Verwundeten. Ich denke, Ihr könntet sie hier unterbringen. Wenn Ihr Rutschen an der Innenseite anbringt, wird es einfach sein, Material zu bewegen. Außerdem gibt es in diesem Plan auch keine Laternenhaken. Eure Mauer wird zur Gänze in Dunkelheit liegen, wenn Ihr das nicht behebt. Ihr werdet Kräne brauchen, hier, hier und hier, um Vorräte hochzuheben.«
»Ihr habt noch nie zuvor eine Mauer gebaut, hm?«, fragte Gavin.
»Ich habe einige studiert«, erwiderte der Architekt.
»Wie viel bezahle ich Euch?«
»Äh, noch gar nichts, Lord Prisma.«
»Nun, verdoppelt es!«, befahl Gavin.
Der Architekt wirkte verwirrt, stellte offensichtlich im Geiste Berechnungen an und schätzte das Resultat nicht besonders, wollte das Prisma jedoch nicht deswegen zur Rede stellen.
»Er scherzt«, erklärte General Danavis dem Mann.
Gavins Augen blitzten.
»Oh.« Der Mann blickte erleichtert drein. Dann konnte Kip die Frage über sein Gesicht gleiten sehen: Scherzt er darüber, dass er mir nichts geben will, oder scherzt er darüber, dass er mir mehr geben wird, wenn ich meine Sache gut mache?
Gavin sagte: »Arbeitet weiter. Dieser Mann hier wird Notizen machen. Ich werde die Grundfesten legen.«
»Er meint das metaphorisch, richtig?«, fragte der Architekt und schaute blinzelnd der entschwindenden Gestalt des Prismas nach.
»Unser Prisma steht auf Metaphern«, bemerkte General Danavis.
»Tatsächlich?«, fragte der Architekt.
Kip stand auf, und ihm war schwer ums Herz. Dies würde eine ebenso gute Chance für eine Flucht sein wie jede andere, die sich ihm bot.
»Kip!« Gavins Stimme erscholl und lenkte alle Aufmerksamkeit auf Kip. Eine Welle der Panik und der Verlegenheit darüber, so leicht ertappt worden zu sein, schlug über Kip zusammen. »Du hast deine Sache heute gut gemacht. Es gibt nicht viele, die an dem Tag, an dem sie es zum ersten Mal versuchen, bewusst etwas wandeln können.«
Ein warmes Gefühl der Freude durchlief Kip, das noch verdoppelt wurde von dem beeindruckten Ausdruck, der über Livs Züge huschte.
»Liv!«, rief Gavin, und sie riss den Kopf herum. »Ich will, dass du Modelle machst: die Anlage der Flure, die Breite der Mauerkrone, was immer die Architekten dir sagen.«
»Ja, Lord Prisma!«, erwiderte sie und richtete den Blick wieder auf den Tisch und ihre Arbeit.
Jetzt oder nie. Wenn er wartete, würde Eisenfaust zurück sein und ihm folgen, wo immer er hinging. Kip sah General Danavis an, der den Kopf gesenkt hielt und Vorschläge machte; Liv, die aufmerksam lauschte; und schließlich Gavin. Dies waren die einzigen Menschen auf der Welt, die ihm etwas bedeuteten, und unglaublicherweise akzeptierten sie ihn. Tolerierten ihn jedenfalls. Mit ihnen hatte er zum ersten Mal im Leben das Gefühl, Teil von etwas zu sein.
Kip drehte sich um und ging zur Stadt zurück.
66
Erst als Kip sich dem Tor der Liebenden näherte, verstand er, warum Gavin versuchte, eine neue Mauer zu erbauen. Die alte Mauer war übersät von Häusern, Läden und Gaststuben wie ein Schiff von Miesmuscheln, und zwar sowohl auf der Innenseite als auch auf der Außenseite der Mauer. An manchen Stellen reichten die Dächer der Menschen beinahe bis zur Mauerkrone hinauf. Wenn Gavin dafür sorgen wollte, dass diese Mauer zu verteidigen war, würde er Hunderte von Häusern dem Erdboden gleichmachen müssen. Dafür allein würde er vier Tage brauchen.
Selbstverständlich würde die Wirkung auf die Betroffenen katastrophal sein. Gavin blieben nur wenige Tage, in denen er die Menschen, die in der Stadt verblieben, dazu bringen konnte, für ihn zu kämpfen statt für seinen Feind. Er stand vor unmöglichen Alternativen: die Häuser der Menschen an den inneren Mauern zu belassen und eine militärisch nicht zu verteidigende Mauer zu haben oder die Häuser niederzureißen und das Risiko einzugehen, eine ohnehin bereits geteilte Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Also hatte Gavin entschieden, seine eigene Mauer zu bauen.
Unglaublich. Wie musste es während des Kriegs des Falschen Prismas gewesen sein, als die Menschen entscheiden mussten, für welchen Bruder sie kämpfen wollten? Es wäre wie ein Kampf an der Seite von Riesen gewesen, zu wissen, dass ihre kleinste Bewegung einen zerquetschen konnte,
Weitere Kostenlose Bücher