Schwarzes Prisma
dass er dazu imstande gewesen wäre.
»Du bist nicht der böse Sohn, Dazen. Du bist vom Weg abgeirrt, aber du warst niemals von boshaftem Wesen. Du bist ein wahres Prisma …«
»Vom Weg abgekommen? Ich habe die Weißeiches ermordet! Ich …«
»Hast du das getan?«, unterbrach sie ihn scharf. Dann sprach sie sanfter weiter: »Ich habe gesehen, wie dieses Gift dich seit sechzehn Jahren auffrisst. Und immer hast du dich geweigert zu reden. Erzähl mir, was geschehen ist.« Seine Mutter war eine echte Guile, wenn nicht durch Blut, so nach Temperament, Veranlagung und Charakter. Sie hatte die ganze Zeit über diese Dinge reden wollen.
»Ich kann nicht.«
»Wenn nicht mit mir, mit wem dann? Wenn nicht jetzt, wann dann? Dazen, ich bin deine Mutter. Lass mich ein Letztes für den Sohn tun, den ich liebe.«
Seine Zunge fühlte sich an wie Blei, aber die Bilder waren binnen einer Sekunde vor seinen Augen. Die höhnischen Gesichter der Brüder Weißeiche, die Welle der Furcht, die ihn lähmte. Gavin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, aber er konnte die ersten Worte nicht hervorzwingen. Er spürte wieder den Hass, den Zorn über die Ungerechtigkeit. Sieben gegen einen. Die Lügen. »Die Dinge standen bereits schlecht mit Gavin. Blau und Grün erwachten früh bei mir, aber ich begann zu argwöhnen, dass ich mehr tun konnte. Ich erzählte es ihm. Du weißt, wir hatten uns nicht mehr nahegestanden, seit er zum Prisma erklärt worden war, und irgendwie machte Sevastians Ermordung die Dinge nur noch schlimmer. Ich dachte wahrscheinlich, es würde ihn mir zurückbringen, wenn ich ihm sagte, dass ich so war wie er. Dass wir wieder beste Freunde sein könnten. Aber es gefiel ihm nicht. Überhaupt nicht.« Aus dem Nichts trat eine Flut von Tränen in Gavins Augen. Er vermisste seinen Bruder so sehr, dass es ihm die Seele zerriss. »Ich verstehe jetzt, wie bedrohlich es für einen jungen Mann gewesen sein muss, das Einzige zu verlieren, was ihn zu etwas Besonderem machte. Damals verstand ich es nicht. Am Tag, nachdem ich ihm erzählte, dass ich ein Polychromat war, hörte ich ihn Vater bedrängen, ihn mit Karris zu verloben. Es war der größte Verrat, den ich mir vorstellen konnte. Ihre Liebe war das Einzige, was mich zu etwas Besonderem machte. Es dauerte einige Zeit, bevor ich die Symmetrie darin sah. Wie dem auch sei, ich dachte, Karris sei ebenso in mich verliebt, wie ich in sie verliebt war. Als Vater ihr Verlöbnis mit Gavin ankündigte, beschlossen wir, zusammen davonzulaufen. Sie musste es jemandem erzählt haben. Vielleicht war es ein Versehen. Ich nehme an, Gavin schien eine bessere Beute zu sein. Karris und ich wollten uns nach Mitternacht direkt vor dem Herrenhaus ihrer Familie treffen. Sie war nicht da. Ihre Zofe sagte mir, sie sei im Haus. Es war natürlich eine Falle. Die Brüder Weißeiche wussten, dass ich mit Karris geplänkelt hatte, und sie wollten mir eine Lektion erteilen. Sie sagten, ich hätte sie entehrt und ihre Schwester in eine Hure verwandelt.«
Sie hatten ihn gepackt, sobald er eingetreten war. Alle sieben Brüder. Sie hatten seinen Umhang heruntergerissen und ihm seine Brillen und sein Schwert genommen. Er erinnerte sich an den großen, umfriedeten Innenhof und an Diener, die aus Türen und Fenstern gespäht hatten. Im Innenhof hatte ein großes Feuer gebrannt – jede Menge Licht, aber nicht für einen Blau/Grün-Bichromaten ohne Brille. »Sie begannen auf mich einzuschlagen. Sie hatten getrunken. Mehrere von ihnen wandelten Rot. Es geriet außer Kontrolle. Ich dachte – denke noch immer –, dass sie mich töten wollten. Ich bin einmal entkommen, aber das Tor, durch das ich zu laufen versuchte, war mit Ketten verschlossen.«
»Sie hatten die Tore mit Ketten verschlossen?«, fragte Felia Guile. Es war Teil der Geschichte geworden, dass Dazen das getan hatte. Aus Grausamkeit. Karris’ Vater hatte es besser gewusst, aber nichts gesagt, um die Lüge aufzudecken.
»Sie wollten nicht, dass ich hinauskam oder dass irgendwelche Wachen oder Soldaten von außen in der Lage sein würden, sich einzumischen, bevor sie fertig waren.« Gavin verstummte. Schaute seine Mutter an. Ihr Gesicht war der Inbegriff von Zärtlichkeit. Er wandte den Blick ab.
»In jener Nacht habe ich zum ersten Mal Licht geteilt. Es fühlte sich … wunderbar an. Ich habe eine Menge Rot benutzt. Vielleicht war ich nicht bereit für das, was Rot mit einem Menschen macht, wenn er bereits wütend ist.« Er erinnerte sich
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