Schwarzes Prisma
der Sonne glänzten, während sich Nebel um jede Kante zog, Kirchen und einige Villen, die sich wie Berge aus den Wolken erhoben, und der Travertin-Palast, der alles beherrschte. Weiter im Süden konnte sie gerade noch die Leuchtwassermauer sehen, wie ein goldener Gürtel um die Stadt. Etwas näher erhob sich schwarzer Rauch über der Stadtmauer, und magische Blitze zuckten von den Toren.
Karris blendete es aus. Fand den Markt, zu dem sie wollte. Sie wandelte ein grünes Waffengeschirr, steckte beide Klingen in Scheiden auf ihrem Rücken, fummelte für eine Sekunde an dem Geschirr herum, damit es dem Bogen und dem Köcher nicht in die Quere kam, verfluchte die zerrissenen, engen Ärmel ihres Kleides, verfluchte ihre muskulösen Schultern und riss die Ärmel ab. Sie atmete auf. Dann rannte sie zum Rand des Dachs und sprang.
Die Häuser standen hier so dicht nebeneinander, dass es ein einfacher Sprung war. Einige Gebäude waren sogar mit Brettern verbunden, damit Nachbarn einander besuchen konnten. Solange sie die Straße nicht überqueren wollte, war es nicht weiter schwierig. Sie lief so schnell sie konnte. Eine Straße musste sie überwinden, dann einen weiteren Häuserblock, dann kam der Markt. Ihr Blick schoss hin und her, während sie sich der größeren Lücke sich kreuzender Straßen näherte.
Da! Eins der Häuser auf der anderen Seite hatte ein erheblich niedrigeres Dach. Karris wandte sich nach links und sprang, über die Köpfe von dreißig oder vierzig Spiegelmännern hinweg. Sie kam auf dem niedrigeren Dach auf, rollte sich ab und sprang gerade rechtzeitig auf die Füße, um einen neuerlichen Satz zu machen – auf ein höheres Dach hinauf. Das nächste Dach erreichte sie mit nur einem ausgestreckten Fuß. Sie stieß sich hoch und versuchte ganz auf das Dach zu kommen.
Sie landete mit der Hälfte ihres Oberkörpers auf flachem, weiß getünchtem Stuck, dann rutschte sie hinunter und versuchte, Halt zu finden.
Rutschte so weit ab, dass sie nur noch an den Fingerspitzen hing, an schmutzigem, rissigem, zerbröckelndem Stuck. Vorsichtig schwang sie zur Seite, wieder zurück und fasste etwas höher. Sie klammerte sich erneut an dem Dach fest, und diesmal war es ein sauberer Griff, und ließ sich abermals hin und her schwingen. Ihr Fuß erreichte das Dach und riss dabei den Schlitz ihres Kleides noch höher auf. Sie zog sich schnell hoch, weil sie nicht darauf vertraute, dass der Rest des Stucks nicht jeden Moment zerbröckeln würde.
Keine Zeit, darüber zu jubeln, dass sie noch lebte. Karris überprüfte ihre Schwerter und ihren Bogen und schaute die sieben Meter bis zu einer unebenen Oberfläche unter ihr hinab – mindestens ein gebrochenes Bein, wenn sie gefallen wäre. Dann rannte sie weiter.
Sie erreichte ein Dach mit Blick auf den Markt und hielt inne. König Garadul kam, mit Hunderten von Spiegelmännern und einigen Wandlern – und Kip war ihnen dicht auf den Fersen.
Das würde ein Gemetzel werden.
Karris lächelte.
88
Kip stand in Flammen. Irgendjemand hatte ihn mit rotem Luxin übergossen und ihn angezündet.
Es hielt ihn nicht auf. Er machte das grüne Luxin, das ihn einhüllte, lediglich dicker, so dass das rote sich nicht durchfressen konnte. Das rote Luxin hing an dem grünen. Er konnte es sich nicht aus dem Gesicht reiben, weil es unversöhnlich festgeklebt war. Aber er konnte das grüne Luxin selbst bewegen, also ließ er es nach außen kreiseln, bis seine Augen frei waren und er wieder sehen konnte. Mit der gleichen Technik ließ er alles Rot auf seinen Armen und Beinen nach außen fließen. Es dauerte nur wenige Sekunden. Er dachte es, und das Luxin tat es. Oder genauer gesagt, er wollte es, und es geschah.
Die Wildheit in ihm war so stark, dass er aus der Stadt wegrennen wollte. Aber er würde es nicht zulassen. Er würde sich die Wildheit zunutze machen. Die Wildheit würde ihm dienen. Sie würde ihm helfen, den Mann zu vernichten, der die Zügel in der Hand hielt, den Mann, der ihn kontrollieren wollte: König Garadul.
Er war sich nicht sicher, dass er in die richtige Richtung ging, aber er folgte dem Strom von König Garaduls Soldaten. Kip selbst war wie ein Leuchtstrahl, so wie er brannte an dem nebligen Morgen. Aber das Licht blendete ihn. Es war, als halte er eine Fackel: Wenn man sie über den eigenen Kopf hielt, konnte man vielleicht in die Dunkelheit sehen, hielt man sie jedoch zwischen sich selbst und die Dunkelheit, sah man überhaupt nichts. Kip war die Fackel.
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