- Schwarzspeicher - Du kannst dich nicht verstecken
Mitte des Tischs ragte eine tapfere 3D-Projektion wie eine digitale Mastspitze in einem Meer aus Papier hervor.
»Jetzt verstehe ich, warum die Ermittlungsabteilung im letzten Jahr einen vierstelligen Betrag für Papier im Budget hatte«, bemerkte Westphal.
»Ich lese nicht gern am Bildschirm. Eine Marotte von mir.« Stephans gab es auf, eine bequeme Sitzhaltung zu suchen.
»So kann man es auch bezeichnen. Wussten Sie, dass im ersten Entwurf des Schwarzspeichergesetzes auch Papier verboten werden sollte?«
Stephans verneinte wahrheitsgemäß. »Mit welcher Begründung?«
»Weil man darauf schreiben kann. Es ist die Urform des lokalen Speichers, den ich mit gutem Grund aus dem Verkehr gezogen habe.«
»Warum haben Sie Papier am Ende doch nicht verboten?«
Westphal gab freimütig Auskunft, während sein Blick durch den Raum wanderte. »Weil ich Schlachten zu meiden pflege, die ich nicht gewinnen kann. Damals wäre das Verbot nicht durchsetzbar gewesen. Mittlerweile ist es überflüssig. Papier ist ein Auslaufmodell. In zehn oder zwanzig Jahren wird kein Mensch mehr gedruckte Bücher lesen oder mit der Hand schreiben, von Nostalgikern abgesehen.«
»Man hat das Ende des Buches schon mehr als einmal ausgerufen«, wandte Stephans ein.
»Ich rede nicht vom Buch an sich. Das Medium des gebundenen Papierstoßes leidet daran, dass seine Vervielfältigung so kostspielig ist. Lange Zeit gab es keine Alternative, aber heutzutage ist das anders. Denken Sie an eine Tageszeitung zurück, daran, welchen Aufwand man treiben musste, um die tägliche Ausgabe zu den Lesern zu bringen: Satz, Druck, Transport, Auslieferung und so weiter. Und dann stellen Sie sich vor, wie Millionen von Menschen morgens die gleiche Newsseite aufrufen. Pure Information; sie zu kopieren kostet nichts. Aus diesem Grund kann man heute keine kritische Masse mehr mit Bildern und Texten versorgen, ohne auf elektronische Datenverarbeitung zurückzugreifen. Das gilt für Schriftsteller und Terroristen gleichermaßen.«
»Dafür kann man heute noch in Büchern blättern, die vor Jahrhunderten hergestellt wurden. Wer weiß, ob man in 100 Jahren noch ein heutiges elektronisches Dokument lesen kann.«
»Sie sind wirklich ein Nostalgiker«, konstatierte Westphal. »Was finden Sie bloß daran, mit der Hand zu schreiben?«
»Es hilft mir dabei, meine Gedanken zu sortieren.«
»Wirklich? Ich habe nicht das Geringste dafür übrig.«
Stephans betrachtete seine Hände. »Ich kann Sie verstehen.«
»Damit hat es nichts zu tun«, entgegnete Westphal. »Handschrift ist zu langsam. Der Mensch denkt schneller, als sein Stift über das Papier fährt.«
»Manchmal ist es von Vorteil, die Dinge etwas langsamer anzugehen.«
»Ist das der Grund, warum Sie noch immer keine Spur zu dem Gefährder haben, obwohl Sie seit fast zwei Wochen nach ihm suchen?« Der Small Talk war vorbei, die Friedenspfeife verraucht.
»Müssten Sie diese Frage nicht an Herrn Littek richten? Schließlich leitet er die Suche nach Effenberger, nicht ich.« Stephans war heilfroh, dass dem so war. Littek machte seine Sache nicht einmal schlecht. Er bot sämtliche technologischen und personellen Ressourcen auf, die dem IKM zur Verfügung standen, und hatte es sogar geschafft, die legendäre Abteilung Datenforensik von Siemens-Chrome mit ins Boot zu holen. Doch weder die Spezialisten des Konsortiums noch die des IKM, weder eine flächendeckende Anomaliedetektion auf den Pods der Deutschen noch die elektronische Rasterfahndung hatten den Staatssekretär Mephs Ergreifung einen Schritt näher gebracht. Das Gleiche galt für Persönlichkeitsanalysen des Flüchtigen, Schleierfahndung und die unzähligen Hinweise aus der Bevölkerung. Meph war und blieb verschwunden. Und solange er das A-Modul besaß, würde sich daran auch kaum etwas ändern. Wie eine Tarnkappe vereitelte der Anonymisierer jeden Versuch, Meph über seine Nutzerkennung oder das Funksignal seines Pads zu identifizieren. Physisch mochte er sich verstecken müssen; in der Welt des Internets genoss er hingegen volle Bewegungsfreiheit.
Diese nutzte er dazu, regelmäßig neue Videobotschaften ins Netz zu stellen, in denen er Westphal anfeindete, Verschwörungstheorien ausbreitete und ganz nebenbei der Welt vor Augen hielt, wie wenig das IKM ihm anhaben konnte. Spätestens als Tim ihm ein Mashup aus Meph-Clips und Westphals Fernsehauftritten zuschickte, hatte Stephans begriffen, wie populär Meph im Netz geworden war. Manche Netzbewohner
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