- Schwarzspeicher - Du kannst dich nicht verstecken
ist eine Lüge.«
Meph rang nach Luft. Was Cassandro da behauptete, war unbegreiflich. Der Angriff auf den Funkturm, der ein ganzes Land zum Ziel gehabt hatte, stellte das ungelöste Rätsel des 21. Jahrhunderts dar. War es möglich, dass ein einzelner Systemflüchtling, der seit drei Jahren unter dem Ground Zero hauste, die Antwort kannte?
»Aber … Woher weißt du das alles?«, stammelte er. »Wieso? Und wer? Ephraim, meine ich. Nun sag doch!«
»Nein.«
»Was?!«
»Du hast mich schon verstanden. Ich werde dir nicht antworten.«
»Du behauptest, Ephraims Identität zu kennen, und willst sie mir nicht verraten?«, sagte Meph gekränkt. »Das ist mehr als random, das ist uber -random. Das ist schlechter Stil. Glaubst du vielleicht, ich lasse mich aus purer Langeweile vom IKM verfolgen? Hier kommt der Newsflash, Höhlenmann: Ich sitze genauso tief in der Scheiße wie du. Also hör verdammt nochmal auf, mir zu erzählen, was gut für mich ist!«
Cassandro sah ihn an. »Bist du fertig?«
Darauf fiel Meph keine schlagfertige Antwort ein, und er begnügte sich damit, die Arme vor der Brust zu verschränken.
»Du hast überhaupt keine Ahnung, worum es geht. Du denkst, es ist lustig, im Untergrund zu leben. Aber das ist es nicht, und es ist auch kein Spiel. Sieh dich genau um. Weißt du überhaupt, in welchem Luxus du da oben lebst, wo es Supermärkte gibt und Waschmaschinen, Schmerztabletten, Regen und alles andere, was du überhaupt nicht zur Kenntnis nimmst, weil es dir jederzeit zur Verfügung steht? Ich hause seit drei Jahren in diesen Tunneln. Ich bin allein, ernähre mich von kaltem Dosenfraß und Tropfwasser und habe eine Jahrhunderte alte Mangelerkrankung und Läuse und Wanzen und weiß Gott was noch alles. Wenn ich nicht dank Thought Police regelmäßig mit anderen Menschen kommunizieren würde, wäre ich längst durchgeknallt. Ich dachte, gerade du würdest verstehen, was das heißt. Aber du bist eben nicht aus meinem Holz geschnitzt. An meiner Stelle hättest du es hier keine drei Tage ausgehalten. Geh zurück in dein beschissenes, glückliches Leben an der Oberfläche.«
Für einen Augenblick erkannte Meph die Person hinter der Fassade. Hinter Cassandros Pseudonymen und Tunnelwänden war er nichts als ein verstörtes Wesen, das nur noch von seinem Überlebenswillen geleitet wurde. Zum ersten Mal ahnte Meph, wie hoch der Preis war, den der Schattenmensch für sein Leben außerhalb von Westphals Zugriff bezahlen musste. Doch auch Meph hatte teuer bezahlt, und seine Wunden waren noch lange nicht vernarbt.
»Ich kann nicht zurück!«, rief er verzweifelt. »Die haben mein Leben zerstört!«
»Du bist nicht der erste Mensch, der im Netz zum Gespött wird. In ein paar Tagen interessiert sich überhaupt kein Schwein mehr für dein dämliches Video, und alles wird wie früher sein.«
»Und was ist mit dem IKM? Seit die hinter mir her sind, will keiner mehr was mit mir zu tun haben.« Meph war den Tränen nahe.
»Du tust ja geradezu so, als hättest du deinen Friends je etwas bedeutet«, entgegnete Cassandro. »Die kommen schon alle wieder. Und wenn nicht, dann suchst du dir eben neue. Irgendwann interessiert sich im IKM niemand mehr für dich, und je weniger du dich verdächtig machst, desto früher verliert man das Interesse. Denn wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, dass du ein Staatsgeheimnis kennen könntest, wirst du sie nie mehr los. Verstehst du jetzt, warum ich dir nichts über Ephraim sagen werde, oder ist das immer noch zu hoch für dich?«
Meph atmete schwer. Er hatte sich von Cassandro Hilfe erhofft, doch alles, was er bekam, waren Spott und Hohn. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Lust, jemanden zu schlagen, doch die Entbehrungen der vergangenen Tage hatten ihn all seines Mutes beraubt. Er fühlte sich wie ein Akku auf dem letzten Balken der Ladestandsanzeige.
Seine Gedanken schweiften zu seiner MyLife-Seite. Er hatte sie seit Stunden nicht mehr gecheckt. Was, wenn Cassandro recht hatte und die ersten Friends zurückgekehrt waren? Wenn er den Kontakt nicht bald bestätigte, würden sie ungeduldig werden und ihr Angebot zurückziehen. Vielleicht war es so, wie es Cassandro gesagt hatte. Meph war kein Rebell. Bei dem Gedanken an kalten Dosenfraß schmeckte er Galle, und auch Skorbut klang nicht gerade verlockend. Im Grunde sehnte er sich danach, nicht ständig über die eigene Schulter schauen zu müssen. Er wollte sich wieder unbeschwert durchs Netz treiben lassen. Ja, Netz,
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