Schwarztee - Tatort-Salzkammergut Krimi
üppige Speisen nicht gewöhnt, auch nicht das billige Pflanzenöl, das wer weiß
was enthalten mochte.
»Das erste Mordopfer war Journalist. Seine Frau Shanna
verhält sich verdächtig. Er hat sie womöglich misshandelt. Mit seinen
Geschichten hat er sich Feinde gemacht. Der bekannte Autor Anton Stürmer hat
Grund, ihn zu hassen. Meine Aushilfe, oder Freundin, was weiß ich, verschwindet
plötzlich – und ich weiß nicht, wieso oder wohin. Dazu Donner … Ach
Papa, all diese Dinge machen mich verrückt! Und dann die Drohungen …«
Fred sprang auf. »Zahlen wir?« Er winkte nach der Kellnerin.
Man kannte seine Stimmungsumschwünge, alle sollten auf ihn Rücksicht nehmen.
Das hätte er verdient, hieß es. »Magst du meine Wohnung anschauen? Sie ist noch
nicht fertig, aber …«
»Ich …«
Er zahlte.
»Du willst nicht.«
»Ich habe noch was vor und muss mich umziehen.«
»Dann begleite ich dich ein Stück. Wenn es dir recht ist.« Er
stieß das Letzte schnell und fragend hervor. Ihr lieber Vater, so dezent, ein
Leben lang. Jederzeit bereit, sich zurückzuziehen.
»Gern.«
»Es geht mir nicht schlecht, weißt du?«
Draußen schlug ihnen feuchtwarmer Dunst entgegen. Kein
Windhauch war zu spüren. Sie schlenderten die Tuchlauben entlang. Weiter vorne
stand das Haupthaus der Bawag, der einzigen Bank, der Fred traute. Sie hatte während
der Zeit des Nationalsozialismus noch nicht existiert und daher als Einzige
keine Arisierungsgewinne gemacht oder sonst wie an jüdischen Schicksalen und
Vermögen verdient. An der Böhmischen Hofkanzlei vorbei, erreichten sie den
Judenplatz.
»Was wirst du jetzt machen?« Fred blieb vor dem Denkmal für
die ermordeten Juden stehen. Ein grauer Steinklotz, eine Tür, stilisierte
Buchreihen ohne Titel. Vor dem Denkmal hatte jemand leuchtend rote Kerzen
angezündet.
Berenike hatte ihm von Beppo Haim erzählt. »Ich weiß nicht.
Was empfindest du bei der Geschichte dieses Widerstandskämpfers?«
»Ach, Mädchen, hör mir auf mit Empfindungen.« Ein Schäferhund
kam ihnen entgegen, wedelte mit dem Schwanz. Fred blieb stehen. »Sag doch Fred
zu mir, hm?« Er lächelte sie gequält an.
»Eitel?«
»Erwischt.« Er wandte sich dem Hund zu.
Berenike erinnerte sich, wie er von den Toten gesprochen
hatte. Den Toten, überall in der Stadt verstreut, überall Gebeine! Fred konnte
nicht hinaus, konnte keinen Schritt allein tun. Auch in Roses Wohnung sah er
sie, Tote, nichts als Tote. Eine Stadt voller Gespenster. Dazu gezwungen
umzugehen, bis man sie wahrnahm. Erschossene, Verhungerte, lebendig Begrabene.
Sie verfolgten ihn, klagten ihn an. Er, der lebte, der überlebt hatte. Sie
wimmerten ihm die Ohren voll. Er saß in einer Ecke der riesigen Wohnung am
Boden und verstopfte sich die Gehörgänge mit seinen Fingern. Sie hielten ihn
mit ihren schmierigen Armen fest, klagte er. Bohrten ihm knochige Finger in die
Brust, mitten ins Herz. Im Alter von 45 Jahren war bei Fred Stein eine schwere
Depression diagnostiziert worden. Der medizinische Befund schien aus heiterem
Himmel zu kommen. Viel später hatte Berenike erfahren, dass er eines Abends
zusammengebrochen war. In einer Therapie hatte er sich an seine Kindheit
erinnert.
›Judenkinder heißen nicht Fred!‹ Hatte man sich über ihn
lustig gemacht. ›Sie heißen Aaron und Mosche und Ben.‹ Ein Glück für Fredi, das
Kellerkind. Kein Gelächter, kein Spiel im Freien. Durch die Jahre im Versteck
blieb Freds Bildung auf der Strecke. Die Nonnen in seiner späteren Schule
fackelten nicht lange. 1945 fragte niemand einen Psychologen. Posttraumatische
Belastungsstörung? Man war froh, was zu fressen zu haben. Das Kind soll lernen,
sich zu benehmen. Zwei Jahre nach dem Krieg war Fred, der immer klein blieb,
von seinem Vater wiedergefunden worden. Für die Mutter gab es kein Grab, nicht
einmal eins in den Lüften. Und auch kein Sterbedatum. Kein Ort der Trauer,
niemals.
Fred war endgültig aus dem Löwenhof ausgezogen, als Berenike
15 war. Heute begriff sie, dass er allein sein musste. Mit seiner Erinnerung.
Eine Bürde, die niemand mit ihm tragen konnte, so hatte er es ihr erklärt. Sie
war die Ältere, begriff, wovon Selene nichts wissen wollte. Deine Geschichte,
meine Geschichte, unsere Geschichte.
Später wollte Berenike ihre jüdischen Wurzeln kennenlernen.
Aber Fred wusste selbst nichts, kannte weder das Ritual von Chanukkah noch von
einem anderen Fest. Rose achtete auf
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