Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Joseph presste die Faust vor den Mund, Renate weinte. »Es tut mir leid, aber ich muss auch Sie alle fragen: Wo waren Sie am Samstagmorgen zwischen zehn und zwölf Uhr? Natürlich«, fügte er vorschriftsmäßig, doch eher widerwillig hinzu, »können Sie die Antwort verweigern, wenn Sie sich selbst oder einen Angehörigen damit in die Gefahr bringen, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden.«
»Bringen Sie Bruno zurück.« Friedas Stimme war ein hohes Krächzen.
»Beantworten Sie bitte meine Frage.«
»Sag’s ihm«, fiel Joseph ein, der wie ein vergessenes Häufchen Unrat auf dem Stuhl saß. Er roch nach säuerlichem Schweiß. »Was hast du schon Aufregendes gemacht?«
»Halt den Mund.« Sie ballte die Fäuste.
»Hast geschrubbt.« Joseph hob den Arm, und es sah aus, als hinge eine bleischwere Last daran. »Krank.«
»Und Sie?«, fragte Ehrlinspiel den Alten. »Ich habe Sie und Ihre Frau ein paar Minuten später am Gewächshaus gesehen. Aber sonst?«
»War oben.« Die blutunterlaufenen Augen sahen Ehrlinspiel an. In Elisabeths Zimmer bist du gesessen, dachte der Kriminalhauptkommissar. Aber das kannst du vor deinem Weib nicht zugeben.
»Die Trennwand«, sagte Hermann wie zu sich selbst. »Ich habe die Trennwand im Stall repariert.« Er blickte zu Renate. »Und meine Frau hat mit den Kindern gespielt. War’s nicht so? Renate?«
Die sah ausdruckslos auf den Tisch, das Gesicht nass. Ehrlinspiel reichte ihr ein Papiertaschentuch. Sie zerknüllte es wie in Zeitlupe, ohne es zu benutzen.
Wie praktisch, dachte er. Keiner hat ein Alibi für den Mord an Johannes. Das ist auf raffinierte Weise auch ein Alibi – für alle. Das Bild der unsichtbaren Truhe fiel ihm wieder ein. Die Truhe, auf die alle sahen. Deren Stahlbänder ein Familiengeheimnis verschlossen. Und die Beschläge, die durch Brunos Tat zwar gelockert waren, aber den Blick auf den Inhalt noch lange nicht freigaben.
»Kann ich zu ihm?«, fragte Frieda leise.
Ehrlinspiel sah von dem Zucken in ihrem Gesicht weg. »Wir entscheiden gerade, wo er untergebracht wird. Es gibt spezielle Anstalten –«
»Anstalten?« Ihre Augen funkelten im fahlen Licht der Deckenlampe. »Anstalten?«
»Therapeutische Einrichtungen. Bruno braucht Hilfe, er –«
»Nein! Die beste Hilfe für ihn ist hier! In der Freiheit, wo er seine Pflanzen hat und den Wald –«
»Ist doch einen Versuch wert.« Joseph blickte zu seiner Frau. »Vielleicht hat die Anstalt einen Garten. Kann er dann –«
Frieda erhob sich steif und beugte sich über den Tisch zu Joseph. »Du bist froh, dass er weg ist«, zischte sie. »Du hast ihn nie mögen. Schon als Buben nicht. Nur deine Elisabeth, die hast du vergöttert.
Du
bist krank, nicht ich. Krank vor Liebe zu dem Mädchen. Wirf mir ruhig das Putzen vor. Aber ich kümmere mich wenigstens um das, was getan werden muss.«
Stille breitete sich aus. Draußen fuhr ein Traktor vorbei. Das Schlagen des Motors schenkte für einen Moment den Eindruck von dörflichem Alltag.
Ehrlinspiels Gedanken kreisten kurz um Friedas Worte. Krank vor Liebe? Sein Hals fühlte sich geschwollen an. Und was musste getan werden? Ihrem Ton nach meinte Frieda damit wohl kaum den täglichen Haushalt.
Die Tür ging auf, und Hand in Hand standen die Kinder da. Das Mädchen drückte das Plüschschaf an ihre Brust.
»Warum bist du so böse auf den Opa?«, fragte der kleine Tobi seine Großmutter ängstlich.
»Hab immer versucht, Bruno zu verstehen.« Joseph schien seine Enkel nicht zu bemerken. »Hab’s immer versucht!« Sein Adamsapfel hüpfte.
Hermann legte Joseph eine Hand auf die Schulter. »Ist gut, Vater. Wir sind, wie wir sind.« Dann entschuldigte er sich und ging mit den Kindern hinaus.
Ehrlinspiel folgte seinem Beispiel und ging durch den Flur in das Zimmer, in dem Lukas Felber gerade zugange war. Es lag neben der Küche und besaß einen Zugang zum Garten. Wie angewurzelt blieb er in der Tür stehen, von wo aus auch der Glatzkopf das Geschehen beobachtete.
»Mach den Mund zu, Moritz, oder willst du dir eine Staublunge zuziehen?« Felber stieg über ein paar Bücher und streckte sich nach einem hohen Regalbrett. Er trug Mundschutz und Handschuhe zu seiner Alltagskleidung: Jeans und kariertes Hemd.
Der Raum war groß und in Staub gehüllt, die Wände waren bis unter die Decke mit Regalen bedeckt. Kreuz und quer quollen Bücher und Zeitschriften daraus hervor, an einer Seite waren die Borde bereits ausgeräumt. Was in den Regalen
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