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Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Titel: Schweig still, mein Kind / Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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erzählt, wer ihr die Unschuld genommen hatte. Natürlich hatte ihre Freundin immer wieder gefragt. Doch Sina konnte es nicht erzählen, sosehr sie sich auch gewünscht hätte, frei zu sein von der bleischweren Last auf ihrer Seele.
    Sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Zärtlich. Dass man sich dabei streichelte und küsste. Zuerst hatte er gar nicht wollen. Dann war er wie ein Tier in sie eingedrungen. Sie lag starr vor Angst auf dem Boden, und als er fertig war, stieß er sie weg und ging davon. Sie torkelte nach Hause und stieg in die Badewanne mit dem beinahe kochenden Wasser. Mit der Wurzelbürste schrubbte sie sich, am Bauch, den Brüsten und Armen, zwischen den Beinen. Sie wollte es ungeschehen machen. Ihre Unschuld zurückhaben. Wollte, dass ihr erstes Mal schön war. Irgendwann war ihre Mutter hereingekommen, hatte sie stumm in ein Badetuch gehüllt und ihr Umschläge mit Kräutersalbe gemacht.
    »Es tut mir so leid, Mama«, flüsterte Sina vor dem Grab.
    Ob sie laut sprach oder die Worte nur dachte, ob sie überhaupt irgendetwas dachte, hätte sie nicht sagen können. Sie wollte sich leer fühlen. So wie in den letzten Jahren. Doch das schmerzlose Nichts hatte sich erneut mit diesem brennenden Leid angefüllt.
    Sie fuhr mit den Fingern über ihre rauhe Haut. Die würde sie ewig daran erinnern, was sie für ein naives Bild von der Liebe gehabt hatte. An den gütigen Gesichtsausdruck ihrer Mutter, als sie ihr aus der Badewanne geholfen hatte. Und an deren blicklose Augen in dem weißen Gesicht, als sie mit der Zunge zwischen den Zähnen und auf die Seite geknicktem Kopf zwischen den Kirschblüten gehangen hatte, im Mondlicht.
    Es war eine dieser Nächte gewesen, im Mai nach Elisabeths Verschwinden, in denen Sina nicht hatte schlafen können. In denen sie wie betäubt durch die Straßen, Gärten und Ställe geirrt war, ihr Ohr an die Futtersilos hielt und sogar in die Mülltonnen sah auf der Suche nach ihrem Kind, getrieben von dem Glauben, Felix läge irgendwo, lächelnd und wohlgenährt, und warte nur darauf, dass Sina ihn aufhob und wieder zwischen die bestickten Kissen seiner Wiege bettete. Sina kehrte im Nachthemd und mit einer dünnen Jacke darüber von ihrer Odyssee zurück, im ersten Morgenlicht, die Beine schwach wie die eines Vogelkükens, um Pause zu machen. Barfuß betrat sie das feuchte Gras der Wiese, steuerte auf die Bank unter den Obstbäumen zu, nur einen Moment ausruhen, dort, hinter dem Haus, dann würde sie weitersuchen.
    Doch die Bank war umgekippt gewesen. Die Beine der Mutter hatten direkt darüber gebaumelt.
    Seither war der Baum nie wieder abgeerntet worden, und die Bank lag noch immer dort und verfaulte im Laufe der Jahre, zusammen mit dem Obst. Und der einstigen Stärke ihres Vaters.
    »Wir hätten dich noch so gebraucht«, sagte Sina vor sich.
    Die Säulen, die Anton getragen hatten, waren mit Hedwigs Tod gebrochen. Täglich hatte er mehr getrunken, verzweifelt an der Flasche Halt gesucht. Es war immer früher am Tag geworden, wenn er erwacht und der Schrecken erneut in sein Bewusstsein gedrungen war. Anton hatte den Hof vernachlässigt, die Hühner hungern und krank werden lassen, und schließlich war ihnen nichts geblieben als ein leerer Stall, ein von Unkraut überwucherter Acker und das Stückchen Wiese hinter dem Haus. Und unermessliche Einsamkeit.
    Sina legte ihre kalten Hände ineinander. »Hast du Elisabeth wiedergetroffen, Mama?«, wisperte sie. »Hat Lissi dir anvertraut, was sie mir noch sagen wollte letzte Woche?«
    Ein Windhauch strich über Sinas Stirn, und erst jetzt merkte sie, dass Schneeflocken auf das Grab fielen. »Zehn Jahre, Mama.«
    Sina wischte das nasse Herbstlaub vom Grabstein. »Meinst du, der Kommissar hat recht? Kann Lissi etwas mit Felix’ Verschwinden zu tun gehabt haben?«
    Sie setzte sich auf die Umrandung des Grabs, ignorierte den Schmerz im Unterleib. »Ich habe noch immer diese zwei Bilder von Lissi in mir«, flüsterte sie. »Ein warmes, lebendiges, auf dem Lissi mit mir durch die Felder springt, im Baumhaus sitzt oder im Iglu. Wie sie mir von Johannes’ Unterwäsche ins Ohr flüstert und von Hermann, der heimlich im Kuhstall onaniert. Wir haben darüber gekichert.« Für ein paar Herzschläge schwieg Sina und spähte ins Dunkel. Nirgends regte sich etwas. Die Menschen waren in den Häusern. Sie kleideten sich an. Es war Zeit.
    »Und dann ist da dieses kalte graue Bild«, sagte sie. »Das eingerahmt wird von der Zeit, als Felix

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