Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
doch um Lissi kümmern.«
Die Schlingpflanzen werden zu schleimigen Algen.
»Hab sie immer geliebt. Wir waren viel zusammen. Sie hatte so schönes Haar. So glatte Haut.«
Immer mehr Algen quellen aus dem Mund des Vaters. Bruno trabt schnell in sein Zimmer und schließt ab. Er will nicht in Algen ertrinken. Dann kauert er sich neben das Bett, blättert ein neues Buch durch. Wirft auf jede Seite einen Blick. Das genügt. Der Speicher füllt sich. Das ist gut gegen die Algen. Sie verschwinden.
Jetzt, im dritten Käfig, beschleunigen die Räder in seinem Kopf. Die Komischs verschwinden hinter dem Kreis. Er weiß, dass sie Freunde sind, weil sie sich berühren.
Manchmal, wenn die Wut kommt, hätte er auch gern einen Freund. Oder wenn ein Auftrag schwierig ist und er die Teile nicht zusammenfügen kann. Aber er weiß nicht, wie das geht, einen Freund zu haben. Wenn er etwas sagen möchte, versteht es niemand. Dabei hat er doch so viele Wörter. So schöne Wörter. Bunte, leuchtende und harte und weiche und in ganz vielen Formen.
Er sinkt zu Boden.
Gestern hat er einen Freund gehabt. Mandragora. Der Freund hat ihm geantwortet. In strahlenden Wörtern. Die haben seine Räder angetrieben, sie sind ganz glatt gelaufen, haben leise geschnurrt. Fragmentlängen-Polymorphismus. Restriktionsenzym. Methyltransferase. Mandragora ist ein Nichtkomisch. Ein Gesternfreund.
Jetzt schwillt die Wut. Alnus glutinosa. Der schwarze Polizist. Er hat ihm den Freund weggenommen! Das Ethyldinitramin jagt zu seinem Herzen. Gleich fliegt er in die Luft, und dann sprengt es den Käfig.
Er steht auf und rüttelt an den Stäben.
Durch den Türspalt am Boden schwappt neues Jaulen herein. Er erstarrt. Es will ihn fangen! Es ist wie damals, als die Mutter und der Vater und Liss und Hermann an diesem riesigen Wasser waren, das wollte ihn ergreifen und ertränken. Aber er hat sich versteckt. Er hat seinen Kopf im Sand eingegraben, damit die Wellenschläge ihn nicht finden. Er ist klug
. Er ist der Bruno-Teufel
.
Schnell zieht er sich wieder am Gitter hoch. Schließt die Augen und wartet, bis das Jaulen abgeflossen ist.
Da riecht er es. Er öffnet ein Auge. Über der Kirche fällt eine Schneeflocke herab. Er presst das Gesicht gegen die Stäbe. So fest, dass sich ihre Kälte in seine Wangen frisst. Zwei Flocken. Drei. Vier. So zart, so leise.
Sie
ist so leise. Das war vor bald elf Jahren schon so gewesen. Da ist sie sein Märzenbecher geworden. Sein Sommertürchen.
Damals im März kommt sie zu ihm herauf. Durch den Schnee. Sie hat dicke Kleider an. Er hat dasselbe an wie immer. Obwohl er weiß, dass er nicht ohne Jacke hinausgehen soll. Mutters
Sollnicht
. Es ist so wunderbar still. Er hüpft. Er liebt Schnee. Sie hüpft auch und macht ihn nach, das gefällt ihm. Sie ist anders heute, aufgeregter als sonst. Dann berührt sie ihn plötzlich. Aber es ist gar nicht schlimm, denn ihre kalten Fingerkuppen fühlen sich an wie Schneeflocken. Dann werden es immer mehr Flocken. Sie sitzen an seinem Hals und streifen sein Gesicht und werden ganz dicht, bis sie überall auf ihm herumwirbeln und er im Sturm nichts mehr sieht. Nicht die Wand der Scheune, nicht die Tür und
sie
nicht. In seinem Kopf toben Wasser- und Sauerstoffmoleküle, weiße sternförmige Blüten breiten sich aus, Kristalle schieben sich ineinander, bauen einen eisigen Kokon um ihn, sie ziehen hinab in seinen Bauch und tiefer, er begreift es nicht, er bewegt sich ruckartig, hart, und plötzlich birst der Kokon krachend auseinander, Eissplitter fallen von ihm ab, Feuer durchströmt ihn, und aus ihm heraus fließt Tauwasser. So warm. So klebrig.
Danach hat er sie lange nicht gesehen. Sie hat ihm gefehlt. Er hätte gerne neues Tauwasser mit ihr gemacht. Er hat sie gesucht und heimlich in ihr Fenster geschaut. Immer in der Nacht. Er weiß, wo er sie findet. Zwei Mal hat er sie gesehen, ohne Kleider. Erst war sie dicker gewesen und dann ganz dick. Bruno weiß, was das bedeutet.
Vor dem Käfig fallen Flocken. Eine Krähe sitzt in einer Linde.
Da! Die Räder rucken rückwärts. Das ist immer so, wenn es beginnt zu schneien. Sie beschleunigen schnell und halten erst an, wenn er die Stelle in seinem riesigen Speicher gefunden hat, die zu den Schneeflocken und den schwarzen Vögeln gehört.
Er sieht das Plateau. Die Zipfel der Decke, in der Felix auf den weiß bedeckten Boden fällt.
Ihr
Felix. Der in diesem dicken Bauch gewachsen ist und den er heimlich aus der Wiege genommen hat.
Sein
Felix.
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