Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
durchbohrte ihren Mann mit ihrem Blick. Ihre Fingerknöchel stachen weiß hervor.
»Hört auf, hört endlich auf, sie ist tot!«, presste Hermann hervor.
Renate strich ihrem Mann über das dünne Haar. Joseph sank auf seinem Stuhl zusammen. Niemand sagte mehr ein Wort.
Der Hauptkommissar bildete sich ein, dass alle auf eine unsichtbare Truhe in der Mitte des Raumes blickten, die ein gut gehütetes Familiengeheimnis barg und die mit breiten Stahlbändern verschlossen war. Was mochte sie enthalten? Streit, Betrug, ein gemeinsam begangenes Unrecht? Und würde er jemanden dazu bringen können, einen der Beschläge zu lösen, die vor zehn Jahren oder schon früher dort angebracht worden waren?
Ehrlinspiel drehte sich um und sah in den Garten auf der Rückseite des Hauses. Ein großes Gewächshaus thronte inmitten akkurat abgezirkelter Beete. Hinter den milchigen Glasscheiben erkannte er die Kontur eines Menschen beim Arbeiten. »Elisabeth … Wie war sie früher?«, unterbrach er die Stille, während die Gestalt mit einem Spaten in der Erde grub und offenbar etwas einpflanzte.
»Sie hatte es gut bei uns. Aber wir hatten schon lange nichts mehr mit ihr zu schaffen. Sie war seit Ewigkeiten weg«, sagte ihre Mutter in Ehrlinspiels Rücken.
»Im Moment haben alle etwas mit ihr zu schaffen. Alle, die mit ihr in irgendeiner Beziehung standen. Egal ob in einer engen oder lockeren. Da draußen, da läuft der Mörder Ihrer Tochter herum. Wir wissen noch nicht, warum er sie getötet hat. Und auch nicht, ob er vielleicht noch einen weiteren Mord begehen wird.«
Aus dem Gewächshaus trat ein hünenhafter Mann ins Freie. Die Haare waren schwarz und standen borstig vom Kopf ab, seine Hose schlabberte ihm um die Beine. Er sah zu Boden und trabte, kaum dass die Glastür ins Schloss gefallen war, auf das Wohnhaus zu. Unter dem T-Shirt erkannte Ehrlinspiel sehnige, muskulöse Arme. In der Hand hielt er ein Büschel Grünzeug.
Der Kriminalhauptkommissar wandte sich um, schlug die Mantelschöße beiseite und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wir alle sollten ein Interesse daran haben, den Täter schnellstmöglich zu finden.«
»Meine Schwester und ich haben uns immer gut verstanden«, sagte Hermann Sommer. »Natürlich gab es auch einmal Streit, aber nie etwas Ernstes. Wir hatten hier draußen nicht viel außer uns selbst und unseren Zusammenhalt. Das war nicht so wie heute, wo jedes Kind seine Computerspiele, seine Playstation und ein Handy hat, im Internet in allen möglichen sozialen Netzwerken unterwegs ist und von den Eltern überall hinkutschiert wird. Der Wald, der war unser Spielplatz. Und die Ställe. Und …«, er warf seinem Vater einen Seitenblick zu, »… und wir mussten auch viel mit den Tieren und auf dem Acker helfen. Da hatten wir Zeit zum Reden. Über die Schule, Noten, Liebeskummer und solche Dinge.«
Ehrlinspiel nickte aufmunternd.
»Und dann war da noch Bruno, um den wir uns gekümmert haben, unser jüngerer Bruder. Bruno ist –«
Im selben Moment schlug die Küchentür auf. Auf der Schwelle stand der Mann aus dem Gewächshaus. Wie versteinert blickte er Ehrlinspiel aus großen dunklen Augen an, senkte dann ruckartig den Kopf und stieß die Hand nach vorne, die einen Strauß zottiger Blumen umklammerte. Aus unzähligen violetten Kugelköpfchen wuchsen zarte weiße Härchen, und noch bevor Ehrlinspiel sich über den honigähnlichen Duft wundern konnte, feuerte der Mann ein hohes, stakkatoartiges »Fujibakama Eupatorium stoechadosmum« in die Luft. Von seinem nackten Arm bröckelte feuchte Erde.
»Bruno, Junge«, ging Frieda auf den Schwarzhaarigen zu, »du sollst doch nicht ungewaschen hier hereinkommen. Und du sollst auch nicht ohne Pullover rausgehen.«
Der sehnige Riese hob den Kopf um wenige Millimeter und schielte an seiner Mutter vorbei in die Küche. Sobald er Ehrlinspiels Blick begegnete, zog er den Kopf wieder ein und trat einen Schritt zurück, ohne den Arm mit den Blumen zu senken. Ehrlinspiel fühlte sich bei seinem Anblick an eine traurige Vogelscheuche erinnert.
Seine Mutter nahm ihm den Strauß ab. »Das ist lieb. Und jetzt ab ins Bad.«
Die Vogelscheuche trabte in den Flur hinaus, und gleich darauf hörte man Wasser rauschen. Frieda Sommer wischte mit einem Lappen die Erdkrümel auf. »Das ist Bruno.«
Der Hauptkommissar beschloss, die Taktik zu wechseln und die Hausherrin mit Komplimenten gefälliger zu stimmen. Möglicherweise konnte er ihr so einige Hinweise entlocken. »Er
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