Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
nachgesehen, ihn neugierig durch ein Bullauge beobachtet, sobald er sich auf den Weg machte.
Sie wusste nicht, was er dort suchte, wohin es ihn trieb, furchtlos, wenn er mit seinen dicken Stiefeln loszog, die Jacke achtlos im Iglu liegen gelassen. Sie wusste nicht, was ihn zurückführte ins Dorf, irgendwann, scheinbar ohne gefroren zu haben und völlig gleichgültig gegenüber den Geschichten, die die Alten über den Wald und die Schlucht erzählten. Doch Sina liebte den merkwürdigen schwarzhaarigen Jungen genauso wie ihre anderen Freunde.
Und dann kam diese Nacht.
Der Winter hatte das Land bis ins Frühjahr nicht aus seinem frostigen Griff entlassen, weigerte sich hartnäckig, mit dem März die erste Wärme in die Gemüter der Menschen zu hauchen. Elisabeth und Sina saßen im Schneehaus, geflüchtet vor den verhärteten Gesichtern der Erwachsenen, eigentlich schon viel zu alt für dieses kindliche Heile-Welt-Ritual. Doch es war der Abend vor Elisabeths siebzehntem Geburtstag, und Sina hatte von zu Hause eine Flasche Sekt stibitzt, um mit der Freundin um Mitternacht anzustoßen.
Später, lange nach zwölf, balancierte Sina in den tiefen Traktorfurchen die schneebedeckte Straße entlang, den roten Schal fest um den Hals geschlungen, die Arme mit den Fäustlingen an den Händen seitlich ausgestreckt wie Flügel, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der Schnee schob sich in ihre Hosenbeine und die Schuhe, doch sie spürte die Kälte kaum. Sie war beschwipst und kicherte, obwohl sie alleine war.
Da sah sie ihn.
Sie erkannte die Silhouette sofort. Er stand zwischen den Häusern und Ställen, die sich im blassen Mondlicht wie schwarze Vierecke vor dem Schnee abzeichneten. Sie rief seinen Namen, ging auf ihn zu, fröhlich, die Auffahrt zu der Scheune hinauf.
In dieser Nacht hatte der Himmel seine Pforte verschlossen.
[home]
7
A m Abend öffnete der Himmel seine Schleusen. Schon auf den wenigen Metern vom Parkplatz bis zum Hintereingang war er klitschnass geworden.
Ehrlinspiel riss die Tür zur
Heugabel
auf, fingerte im Dunkeln nach seinem Zimmerschlüssel und hastete ins Obergeschoss. Wasser schmatzte in seinen Schuhen und troff in seinen Kragen. Als er sich aus dem Mantel schälte und gleichzeitig das Licht anknipste, atmete er erleichtert auf: Neben dem Spind stand seine Reisetasche, und sein Laptop lag sicher verpackt auf dem kleinen Tisch. Auf seine Kollegen war Verlass.
Er rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken, räumte Jeans, T-Shirts, Unterwäsche und zwei Pullover in den Schrank. Rasierzeug und
Meer & Moos
, sein Lieblings-Aftershave, stellte er auf den Rand des Waschbeckens.
Als der Hauptkommissar die Zartbitter-Schokoladetafeln aus der Tasche zog, musste er unwillkürlich lachen. Manchmal war Paul Freitag schlimmer als ein ganzes Nest voller Glucken. Und wenn sein Kollege nicht in einer glücklichen Beziehung leben und einen wunderbaren Vater abgeben würde, hätte er sich über dessen Fürsorge ernsthaft Gedanken gemacht. Vielleicht sollte er, Moritz, sich doch endlich eine Frau suchen, die derlei Dinge für ihn erledigte. Sofort schämte er sich für seinen Chauvigedanken. Dennoch hatte die Vorstellung etwas Angenehmes. Zumindest in gewissen Grenzen.
Er schlüpfte in eine saubere Jeans und einen hellgrauen Strickpullover mit Zopfmuster. Die Ermittlungsergebnisse des Tages stimmten ihn unzufrieden. Die Mitglieder der Familie Sommer waren auch in den Einzelbefragungen distanziert geblieben und konnten oder wollten keine neuen Fakten beisteuern. Ebenso Sina. Ehrlinspiel hatte schon erfreulichere Nachmittage erlebt: Hinzu kam, dass die Hundertschaft vom strömenden Regen überrascht worden war. Er war dazugestoßen, als sie das Durchkämmen der Rabenschlucht fast beendet gehabt hatte. Monika Evers, die ihm als ermittlungsführendem Beamten zur Seite gestellt worden war und ihn bei der Arbeit unterstützen würde, war bereits dort gewesen. Ihre Orts- und Personenkenntnisse, so hoffte Ehrlinspiel, würden manches erleichtern.
Sie hatten unter Evers’ großem Schirm, inmitten regenschwerer Tannen, Schutz gefunden. Zentimeter um Zentimeter war das Gelände abgesucht worden. Spürhunde hatten versucht, die Fährte des verschwundenen Ungeborenen aufzunehmen. Ohne Erfolg.
»Dafür haben sie einen Stein gefunden, neben dem Pfad Richtung Dorf. Mit ziemlicher Sicherheit die Tatwaffe. Es war Blut dran.« Die Polizeiobermeisterin hatte durch ihre kurzen Haare wie ein rundlicher Igel mit
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