Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
glänzenden Stacheln ausgesehen. Sie war einen Kopf kleiner als Ehrlinspiel mit seinen eins vierundachtzig, so dass er ungewollt auf sie hinabsehen musste.
»Das heißt, der Täter ist wahrscheinlich ins Dorf gegangen. Oder irgendwo in die Nähe.« Und er hatte, wie vermutet, zur nächstbesten Waffe gegriffen. Spontantat. Ehrlinspiel spürte, wie seine nassen Kleider kalt auf der Haut klebten.
»Sieht so aus. Aber warum bettet er die Leiche so planvoll in die Lichtung, um dann den Stein unbedacht wegzuwerfen? Das passt doch nicht zusammen.«
»Gute Frage.«
Evers mochte keine Schönheit sein, war aber freundlich und offenbar auch sehr tüchtig. Nachdem sie bereits gestern den Einsatz am Fundort souverän eingeleitet hatte, bewies sie heute erneut Engagement und dachte mit. Am Vormittag war sie aus eigener Initiative noch einmal durch das Dorf gegangen und hatte die Bewohner nach eventuellen Beobachtungen gefragt.
»Konnten Sie noch etwas erreichen?«, erkundigte sich Ehrlinspiel nach ihren Ergebnissen.
»Die Leute sind wie die berühmten drei Affen. Augen zu, Ohren zu, Mund zu.«
»Nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen. Nur das beachten, was angenehm ist.« Ehrlinspiel kannte die religiöse Bedeutung des japanischen Drei-Affen-Symbols. Seinen Ursprung hatte es in einem Tempel auf der Insel Honshu.
»Genau. Nett sei Elisabeth gewesen, das sagen ein paar, aber richtig erinnern kann sich angeblich niemand an sie. Und in den letzten Tagen hat natürlich keiner mit ihr gesprochen.«
»Hm.«
»Ich weiß nicht, ob das wichtig ist«, Evers zögerte kurz, »aber ich bin dann aufs Revier zurückgefahren und habe mir die alten Unterlagen vorgenommen.«
»Gut. Und?«
»Elisabeths Vater hat die Tochter damals als vermisst gemeldet. Am Freitag, den fünfundzwanzigsten Januar. Einen Tag, nachdem sie verschwunden war. Es gab eine riesige Suchaktion. Der Vater war laut Aktennotiz total verzweifelt, ist selber mitgelaufen und hat die Männer angefleht, weiterzugehen, sobald sie auch nur die kleinste Pause eingelegt haben.«
Ehrlinspiel nickte. Er dachte an den Teddybären auf Elisabeths Kopfkissen. Ihm hatte ein Auge gefehlt. »Was ist dann passiert?«
»Nach ein paar Tagen wurde die Suche abgebrochen. Es gab keine Hinweise auf ein Verbrechen. Elisabeth hat persönliche Dinge mitgenommen, ist also offensichtlich aus freien Stücken gegangen. Und außerdem wurde sie am zweiten März achtzehn. Sie war volljährig. Sie durfte sich also aufhalten, wo sie wollte.«
»Gute Arbeit, Frau Evers.«
»Danke.« Die junge Beamtin sah zu Boden.
Der Regen prasselte auf den harten Stoff des Schirms.
»Wissen Sie auch etwas über Sina Vogel? Kennen Sie sie?«
»Flüchtig. Die Leute hier mögen sie nicht sehr, glaube ich. Es gab da gewisse Untertöne heute Morgen, wenn ich das richtig interpretiert habe.«
»Irgendetwas stimmt mit ihr nicht.« Ehrlinspiel zog das Foto hervor, das er aus Elisabeths Zimmer mitgenommen hatte. »Die Dritte von links ist Sina.«
»Ja, ich erkenne sie. Ich war damals erst dreizehn und nur selten hier im Dorf, aber die blonden Locken und die Sommersprossen …«, Evers nickte. »Eindeutig.«
»Ich war heute bei ihr. Sie ist extrem mager, ihr Gesicht verhärmt. Unter der blassen Haut zeichnet sich jeder Knochen ab, und an Hals und Unterarmen hat sie Tausende winziger Narben. Sie war so ein prächtiges Mädchen. Und jetzt …? Sie ist doch gerade erst sechsundzwanzig.«
Vom Rand des Regenschirmes liefen Rinnsale herunter. Die Männer der Hundertschaft sammelten sich.
»Jung und traurig scheint sie. Vielleicht Liebeskummer?«
»Das glaube ich nicht. Nicht nur jedenfalls«, hatte er erwidert, und sie waren mit dem Suchtrupp zu der Straße aufgebrochen, an der sie bereits am Vortag ihre Wagen geparkt hatten. »Sina wirkt angespannt. Sie trägt ihre Angst um sich wie eine Rüstung.«
Der Kriminalhauptkommissar konzentrierte seine Gedanken auf die Gegenwart. Er sollte etwas essen. Vielleicht würde ein saftiges Steak seine Frustration lindern. Später konnte er sich die Bilder vom Fundort auf seinem Laptop ansehen. Er wusste, dass die Techniker aussagekräftige Fotos ausgewählt und ihm auf den Rechner gespielt hatten. Auch darin war die KT erstklassig.
In der Gaststube waren nur zwei Tische besetzt. Am einen saß eine Gruppe von drei Männern, die Karten spielten, mit etwas Abstand zu ihnen hockte ein älterer, rotgesichtiger Mann, der in den Anblick seines Hefeweizens
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