Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
demonstrativ seinem Spätburgunder.
»Soll ich dir was sagen«, erwiderte der Tischnachbar, und Ehrlinspiel dachte, dass es ganz egal war, ob der Erste es hören wollte oder nicht, denn sogleich fuhr der Tischnachbar nuschelnd fort: »Der haut so schnell nicht ab.«
Ein anderer nickte. »Ich hab Durst.«
»Dann trink was, Mann«, sagte der kleine Vollbart.
Willi bediente die Männer.
»Ich sag dir noch was.« Unverhohlen stierte der Nachbar zu dem Hauptkommissar herüber. Sein Gesicht war schön geschnitten, was einen kuriosen Kontrast zu seiner Ausdrucksweise bildete. »Der Bulle hat Schiss allein. Bringt sich deswegen die heiße Tante mit, die die Elisabeth gefunden hat.«
»Genau, Herbert, Schiss hat er.« Sie grölten los und stießen klirrend ihre Gläser aneinander, als das Essen für Ehrlinspiel und Hanna Brock kam.
Die Redakteurin wirkte amüsiert, und Ehrlinspiel ignorierte die Männer, so gut er konnte. »Was für Spuren verfolgen Sie denn nun?«, fragte er und fischte zwei Bohnen aus der Schüssel.
»Die Sache mit der Schlucht. Die alte Gerichtsstätte.«
»Spannend?«
»Durchaus.«
Ehrlinspiel fiel nichts mehr ein. Schweigend aßen sie weiter, während er den Regen vor dem Fenster beobachtete.
Als Hanna Brocks Teller leer war, stand sie auf und entschuldigte sich. »Ich bin gleich zurück.«
Willi kam an den Tisch. »Alles in Ordnung?«
»Bestens.« Ehrlinspiel wischte sich mit der Serviette den Mund ab und fragte leise: »Sagen Sie mal, was ist eigentlich mit Sina Vogel? Ist sie … krank?«
»Krank? Nee.« Er deutete mit dem Kinn auf den einzelnen Mann am Tisch. Der fuhr gerade mit einer gelben Zunge über ein Zigarettenpapier. Seine Hände, vergilbt und trocken wie Eidechsenhaut, drehten ungelenk an der Zigarette herum. Tabak bröselte in das Weizenglas, doch der Mann schien das nicht zu bemerken. »Sie sorgt sich um ihren Vater.« Willi beugte sich vor. »Anton wohnt sozusagen hier, seit seine Frau tot ist.«
»Verstehe.« Jetzt erinnerte er sich. Der Mann hatte gestern am selben Tisch gesessen und erbost irgendetwas von sich gegeben, als er, der fremde Polizist und Eindringling, mit dem Wirt gesprochen hatte.
»Armer Kerl.«
»Kann ich Ihnen vertrauen?«
Die kleinen Augen des Wirts blitzten sofort misstrauisch. »Ich schwärze niemanden an.«
»Natürlich nicht. Ich interessiere mich auch nur für die Fakten, nicht für Gerüchte.«
»Da sind Sie bei Anton am Falschen.« Willi schielte zu Sinas Vater hinüber, dem die unangezündete Zigarette aus dem Mund hing. »Sehen Sie ihn sich doch an! Der geht keinen Abend aufrecht zur Tür raus.«
»Es geht nicht um Anton.« Er machte eine Pause. »Elisabeth war an ihrem letzten Abend hier. Mit ihrem Bruder Hermann.«
»Soll das jetzt ein Verhör werden?«
»Sie mochten Elisabeth doch.«
»Ich mag auch den Hermann.« Willis Stimme wurde kalt.
»Gut. Dann können Sie mir sicher sagen, wann genau die beiden hier waren? Es geht nur darum, alle Angaben zu prüfen. Routine.«
Im selben Moment setzte sich Hanna Brock wieder zu ihnen. Ihre frisch geschminkten Lippen glänzten im selben Rosaton wie ihr Pullover. Er sah aus, als würde er sich unheimlich flauschig anfassen. Die Enden von Willis Schnauzbart hoben sich leicht an.
Hanna schien Ehrlinspiels Gedanken gelesen zu haben. »Mohair.« Sie lächelte keck und streckte den Arm aus.
»Ich habe Angst«, sagte Ehrlinspiel. Die Frau war wirklich sehr forsch.
»Wovor?«
»Vor Raubkatzen.«
Hanna zog eine Augenbraue hoch. Dann nahm sie den Arm zurück und lachte. »Ich fresse keine Männer. Nicht wahr, Willi?«
Ehrlinspiel versuchte, den Blick des Wirts einzufangen. Doch der klebte an der Raubkatze. Bei ihm trugen ihre Schmeicheleien offenbar schon Früchte. »Also, wenn Sie Hermann und mir helfen wollen …?«
»Elisabeth hatte am Mittwoch Streit mit jemandem.«
»Mit wem?« Ein Seitenblick auf Brock ließ ihn sofort auf der Hut sein. Hoffentlich rief die nicht gleich in ihrer Redaktion an und verkaufte die Story an ein Sensationsblatt.
Der Wirt hob die Schultern und behielt die anderen Tische im Blick. Niemand schien sich um sie zu kümmern. Doch Ehrlinspiel traute dem Frieden nicht.
»Sie haben ganz recht«, pflichtete Hanna Willi bei. »Ich würde meine Freunde auch nicht verpfeifen.«
Ehrlinspiel widerstand dem Reflex, die Augen zu verdrehen.
»Johannes ist nicht mein Freund«, zischte der Wirt.
»Johannes. Aha.« Hanna schmunzelte.
»Sie meinen Elisabeths Jugendfreund?«
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