Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
vertrauten Umfeld kein Mensch »Herr Sommer« zu ihm sagen –, hatte nichts bewirkt.
Wenn die Vogelscheuche nicht mit ihnen kommunizierte, würden sie ein echtes Problem kriegen. Das Vormundschaftsgericht würde eingeschaltet, per richterlichem Beschluss ein Pfleger eingesetzt – und der wäre verpflichtet, alles zur Schonung Brunos zu tun. Womöglich durften sie ihn dann überhaupt nicht mehr vernehmen.
»Verstehen Sie, was ich Ihnen sage, Bruno?«
Kurz wedelten die Hände des Angesprochenen, dann klebten sie wieder wie die Füße eines Geckos an der Wand. Bei den Exoten waren es Billionen feinster Härchen, die das Tier an den Füßen trug und die es dank Adhäsionskraft vor allem an feuchten Wänden haften ließen. Bei Bruno war es eine psychische Kraft, und Ehrlinspiel wollte diese sanft brechen.
»Können Sie uns erklären, wie die Leiche Ihres Nachbarn in Ihr Gewächshaus kam?«
Brunos Augen schossen durch den Raum.
»Es gab auch Fleischstücke in einem Beet. Wollen Sie sich dazu äußern?«
Leises Wimmern.
»Das Fleisch war unter frisch eingepflanzten Blumen vergraben. Blumen, die im Kreis standen.« Ehrlinspiel machte eine bedeutungsschwere Pause. »Sie pflanzen doch solche Kreise, nicht wahr?« Zweite Pause. »Haben Sie Leichenteile dort vergraben, Bruno? Die Stücke lagen unter Orchideen. Schönen Orchideen.«
»Oh friss ten tre di ni fe ra.« Leise, abgehackt.
Ehrlinspiel wechselte einen Blick mit Freitag.
»Was heißt das, Bruno? Was sollen wir fressen?«
Gregor Deschner räusperte sich in seiner Ecke. »Das ist ein Orchideenname. Ophrys tenthredinifera.«
Ehrlinspiel warf Deschner einen Seitenblick zu. Er mochte den Kollegen. Der war ein ehrlicher Typ und kritischer Kopf – und offenbar auch für echte Überraschungen gut.
Um mit Bruno auf gleicher Augenhöhe zu sein, stand Ehrlinspiel auf, blieb aber auf räumlicher Distanz. »Stimmt das, Bruno?«
Bruno sah für einen Augenblick zu Deschner. Dann begann er zu summen: »Hm hmmm …«
Freitag richtete sich kaum merklich auf.
Unwillkürlich kamen Ehrlinspiel seine Vierbeiner in den Sinn. Gerieten Katzen in Panik, so schnurrten sie oft. Eine Strategie, um sich selbst zu beruhigen – und keineswegs immer Zeichen von Wohlgefühl. Konnte es bei Bruno ähnlich sein? Summte er, um seine Angst zu besiegen?
Bruno legte jetzt den Kopf abwechselnd von der einen auf die andere Schulter, und sein Summen mündete in ein dunkles Brummen. »Ein Pflänzelein, hm, hm, mein Kindchen fein, hmmm, hmmm … setzen wir im Garten ein, hmmm …«
Fragend sah Ehrlinspiel zu Freitag. Der hob die Schultern.
»Aus dunkler Erde«, grummelte Bruno, »hm, hm … Leben.«
Der Autist konnte also durchaus normale Wörter artikulieren. Ehrlinspiel trat auf Bruno zu. Sofort verstummte der.
Ich Trottel, dachte Ehrlinspiel. Jetzt habe ich ihn erschreckt. Betont sanft fragte er: »Die Pflänzelein, die Sie in Ihrem Gewächshaus eingesetzt haben, die stehen ja auch in schöner dunkler Erde, nicht wahr? Was ist das denn für eine Erde? Können Sie uns sagen, wie Sie die Erde für die, äh …?« Hilfesuchend schielte er zu Gregor Deschner.
»Ophrys tenthredinifera«, sprang dieser ein.
»… die Ophrys dingsda gemischt haben?«
Bruno schwieg.
»Haben Sie die Leiche des Babys zerstückelt und unter die Erde gemischt? Elisabeths Baby? Ein Kindelein?«
»Liss, liss!«, schossen die Silben hell aus Brunos Mund, und er begann auf der Stelle zu hüpfen.
Der Hauptkommissar glaubte sich in der Küche der Sommers: Der Name Elisabeth fiel, und in Bruno kam Leben. Er wartete, dass Bruno um den Tisch laufen würde. Doch stattdessen sang der laut: »Liss, liss, oh friss.« Und: »Aus dunkler Erde, Liss, oh friss, hm hm …«
Dieser Reim … »Das ist es!« Ehrlinspiel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Elisabeth. Ihr Kind. Vergraben unter Orchideen. Den verfluchten Reim hat er schon am Freitag runtergeleiert.«
»Dieses Gesumme beweist doch nichts, Moritz. Bruno Sommer ist …«, Freitag hob die Hände. »Vielleicht hat seine Schwester einfach nur Orchideen geliebt.«
Ehrlinspiel seufzte. Freitag hatte recht. Indizien reichten nicht. Er musste auf die DNA -Ergebnisse warten. Und Johannes Beyer … auf den sprang Bruno überhaupt nicht an. Auch hier hieß es, Geduld mit den überlasteten Labormitarbeitern zu üben.
»Ha zwei en, ce ha zwei, vier, en ha zwei.« Wie ein Maschinengewehr feuerte Bruno die Silben in die Luft.
Ehrlinspiel sah zu Deschner.
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