Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
verband. Sie strich liebevoll über das weiche Innenfutter, erinnerte sich daran, wie sie ihm dabei geholfen hatte, die Tür und die Außenwände abzuschleifen; wie die Sägespäne sie in der Nase gekitzelt hatten, sah sein Lächeln vor sich, während sie gemeinsam arbeiteten.
Du musst mit der Maserung schleifen, immer entlang der Maserung.
Von den an der Innenwand der Tür aufgereihten Pistolen wählte sie die Glock 27 als Ersatzwaffe. Vierziger Kaliber, dennoch klein genug, um in einem Wadenholster oder im Hosenbund getragen zu werden. Den meisten Platz im Schrank nahmen die Langwaffen ein: Dads altes Jagdgewehr und ihre Schrotflinte, die Remington 870, standen einträchtig nebeneinander, wie alte Freunde, die gemeinsam auf sie warteten.
Heute nicht. Wahrscheinlich würde sie die Baby-Glock auch nicht brauchen, genauso wenig wie den Teleskopschlagstock oder das Klappmesser, das sie am Körper trug, doch Caitlyn war gerne gut vorbereitet, wenn sie auf Reisen ging. Man wusste ja nie, was einen da draußen erwartete.
Nachdem sie für mehrere Tage gepackt hatte – nur für den Notfall, sagte sie sich – und LaSovage eine Nachricht hinterlassen hatte, dass sie einen freien Tag nehmen würde, machte sie sich wieder auf den Weg. Als zusätzlicher Bösewicht bei Trainingseinheiten würde sie ohnehin niemand vermissen. Caitlyn war früh genug und weit genug von der Innenstadt entfernt unterwegs, um die linke Spur der Interstate weitestgehend für sich allein zu haben. Obwohl die I 85 sich ab Richmond als eintöniger langer Highway durch South Virginia zog, fürchtete sie nicht, am Steuer einzuschlafen. Dafür hielten sie zu viele Dämonen wach.
Das Gesicht ihres Vaters, mit blutverschmiertem rotem Haar – rot wie ihr eigenes Haar, was sie beide vom Rest der Familie unterschied. Der sonst immer wache, leicht verschmitzte Blick getrübt, die Augen nebelverhangen, so wie der Fluss an einem kühlen Morgen. Als sie ihn an der Wange berührt hatte, weil sie nicht glauben konnte, was sie da sah, war die Haut noch warm gewesen. Aber nicht warm genug. Caitlyn hatte auf dem Wohnzimmerboden gekniet, dasselbe Zimmer, in dem sie sonst nach der Schule saß und Trickfilme schaute, auf das Klappern seiner Stiefel lauschte und kaum erwarten konnte, dass er die Tür aufriss, sie auf den Arm nahm. Die Welt mochte groß und gefährlich sein, in diesem Augenblick hatte sie sich immer absolut sicher und geborgen gefühlt
Ein Lastwagenfahrer hupte Caitlyn an, weil sie von der Spur abgekommen war. Sie riss das Steuer herum und wischte sich mit den Fingerknöcheln der geschlossenen Faust die Tränen fort. Dumme Gefühlsduselei. Alles, was ihr fehlte, war ein ordentlicher Kaffee.
Sie hatte ihrem Vater nie Vorwürfe gemacht. Sechsundzwanzig Jahre, und nicht einmal hatte sie ihm irgendetwas vorgeworfen.
Ihre Mutter schon. Der Rest ihrer Familie auch. Die Menschen in der Kirche, in der Stadt, in der Schule. Evergreen in North Carolina war ein kleiner Ort am Rand des Cherokee-Reservats. Die Art von Kleinstadt, in der jeder alles über die anderen wusste und seine Meinung dazu äußerte.
Schwach hatten sie Sean Tierney genannt. Einen Feigling.
Caitlyn war deswegen in etliche Schlägereien verwickelt worden, hatte zahlreiche Erwachsene einschließlich des Pfarrers beschimpft und angeschrien – bis ihre Mutter sie auf ihr Zimmer geschickt hatte. Natürlich hatte Jessalyn nicht ahnen können, dass Caitlyn durch die Lüftung jedes einzelne Wort, das in der Küche und im Wohnzimmer fiel, hören konnte.
Und so erfuhr sie die Wahrheit: Ihr Vater hatte sich umgebracht wegen dessen, was Eli Hale getan hatte. Sean war kurz davor gewesen, seinen Job zu verlieren, weil er Eli weiterhin verteidigt und versucht hatte, die Unschuld seines Freundes zu beweisen. Eli sei zur Tatzeit bei ihm gewesen, behauptete er, obwohl der selbst zugegeben hatte, einen Stammesältesten der Östlichen Cherokee mit einem Hammer erschlagen und anschließend sein Haus niedergebrannt zu haben, um den Mord zu vertuschen.
Nein, sie machte ihrem Vater keinen Vorwurf, weil er sie vor all diesen Jahren allein gelassen hatte. Sich wie ein Feigling aus der Affäre gezogen hatte. Ihre Welt zerstört hatte.
Ihren Vater traf keine Schuld. Schuld war allein Eli Hale.
Schließlich erreichte sie das Gelände des Butner Staatsgefängnisses, und inzwischen war sie nicht nur wütend, sondern auch äußerst übellaunig. Der sonnige Januarmorgen war wie Hohn, grauer Regen hätte besser
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