Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
aus, als sei sie eine Neunjährige. So hatte sie er sie wahrscheinlich noch in Erinnerung. Leider hatte sich auch genauso unreif verhalten und sich von den Reapern provozieren lassen. Caitlyn schlenderte zu ihrem Subaru hinüber und setzte sich auf die Motorhaube, um nachzudenken. Aus welchem Grund sollte Lena den Tod von Sean Tierney untersuchen? Eli Hale hatte gesagt, sein Selbstmord hinge mit dieser mysteriösen Gruppe zusammen, die seiner Meinung nach ebenfalls eine Bedrohung für Lena darstellte. Das hatte Caitlyn allerdings als paranoide Wahnvorstellungen eines seit einem Vierteljahrhundert eingesperrten Mannes abgetan.
Dennoch war Lena nun mal tatsächlich verschwunden. Und die Menschen in Evergreen logen, wenn es sie betraf – zumindest einige von ihnen. Falls Lena wirklich in Gefahr war, sollte sie besser schnell herausfinden, was hier gespielt wurde.
Ein Deputy geleitete Goose zu seinem Einsatzwagen und verfrachtete den Reaper auf den Rücksitz. Ein Hindernis weniger, dachte Caitlyn. Und jetzt zum nächsten: Paul.
Sie seufzte, setzte sich ans Steuer ihres Impreza und machte sich auf den Weg zum
VistaView
. Sie musste noch Elis Unterlagen durchgehen, Paul besänftigen und sich etwas ausdenken, wie sie Lena finden konnte. Das versprach eine lange Nacht zu werden.
Ihr spukte jedoch etwas ganz anderes im Kopf herum, während sie gedankenverloren den Subaru um die engen Kurven lenkte … Das Bild ihres Vaters, der in einer Blutlache lag, die Dienstwaffe noch in der Hand.
Weshalb sollte Lena einen sechsundzwanzig Jahre zurückliegenden Selbstmord untersuchen?
19
Aus Lenas Hütte drang kein Laut und Bernie fragte sich, ob sie wohl schlief. Auf Zehenspitzen lief er durch den vorderen Raum bis hin zum begehbaren Kleiderschrank, in dem er sie zurückgelassen hatte. Er wollte sie nicht wecken. In der Hütte war es kühl. Eine Zentralheizung gab es hier oben nicht, doch er hatte noch ordentlich Kohle aufgelegt, ehe er gegangen war. Die Hitze musste sich verflüchtigt haben.
Eine Diele knarrte. Er lauschte. Kein Mucks war von Lena zu hören, nicht einmal dieses verrückte Hymnengesinge von gestern. Sie hatte eine so wunderschöne Stimme. Ihr zuzuhören hatte ihn tief berührt. Und nun bekam er es mit der Angst zu tun. Was, wenn sie das Betäubungsmittel nicht vertragen hatte?
Er kramte eine ganze Weile nach dem Schlüssel für das Vorhängeschloss, öffnete schließlich die Schranktür. Staub quoll ihm entgegen, kitzelte ihn in der Nase, bis er niesen musste. Er schaltete das Licht ein.
Mitten im Kleiderschrank türmte sich Schutt. In der Außenwand klaffte ein riesiges Loch.
Lena war fort.
Bernie stand heftig atmend da und hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. »Lena!«
Sein Schrei fing sich in den Staubwolken. Er drehte sich um und rannte nach draußen, um die Hütte herum, bis er vor dem Loch stand. Es lag gerade genügend Schnee, dass er Fußstapfen erkennen konnte. Gott sei Dank.
Er raste zum Pick-up, schnappte sich eine Taschenlampe und folgte der Spur. Sie wurde immer wieder von großen Abdrücken nackter Füße gekreuzt. Die Schimpansen. Wenn sie ihr etwas getan hatten, dann würde er sie erschießen, sie alle umbringen, das schwor er sich.
Wenn er nach dem Leoparden sah, trug Bernie immer die Jagdwaffe seines Großvaters bei sich. Ein alter Smith-and-Wesson-Revolver mit 44er-Kaliber, schwer, ein wahres Ungetüm. Mit einem Jagdgewehr hatte Bernie schon häufig auf Wild geschossen, Großvaters Revolver hatte er jedoch noch nie zuvor auf ein Lebewesen gerichtet.
Zwei Mal war er bis auf Schussweite an einen Bären herangekommen, hatte es aber nicht über sich gebracht. Ein so wunderschönes Wesen auszulöschen wäre doch eine Schande. Besonders, da er gar keinen Grund hatte. Also war der Revolver im Holster steckengeblieben, während er und der Bär sich stumm beäugten. Beide Begegnungen hatten damit geendet, dass der Bär in aller Ruhe wieder im Wald verschwunden war, ganz so, als sei Bernie überhaupt nicht da.
Jetzt zog er die 44er aus dem Holster. Hielt sie in der einen und die Taschenlampe in der anderen Hand, während er sich zu den halb verwehten Abdrücken hinunterbeugte. Sie führten im Halbkreis am Waldrand entlang. Gott sei Dank war sie schlau genug, den Wald zu meiden. Ein Mädchen aus der Stadt würde sich dort bestimmt verirren.
»Lena.« Sein Ruf wurde vom Wind davongetragen.
Da bemerkte er eine Kuhle im Schnee, die einem Frauenkörper glich. Sie hatte sich hingelegt.
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