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Schweig um dein Leben

Schweig um dein Leben

Titel: Schweig um dein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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sollst du wissen, dass ich jede Sekunde des Tages an dich denke und dich vermisse. So sehr vermisse.
    In Liebe
    Deine A
    Nachdem ich den Brief zu Ende geschrieben hatte, las ich ihn noch einmal aufmerksam durch. Meiner Ansicht nach enthielt er keinerlei Anhaltspunkte auf unseren Aufenthaltsort. Trotzdem fügte ich, um ganz sicherzugehen, noch hinzu:
    PS: Zeig diesen Brief niemandem und vernichte ihn, nachdem du ihn gelesen hast.
    Mein nächstes Problem war – wie sollte ich den Brief verschicken? Ich konnte ihn nicht in einen Hotelbriefumschlag stecken, auf dem der Name und die Adresse des Mayflower standen. Außerdem hatte ich keine Briefmarke. Ich spielte mit dem Gedanken, mich nach unten zu schleichen und in der Lobby eine zu kaufen, aber das konnte ich nur nachts machen, wenn Jim schlief, und um diese Uhrzeit hatten die Läden bestimmt nicht mehr auf.
    Plötzlich fiel mir die Bestellung für mein Zeitschriften-Abo ein. Ich hatte sie mit Sherry ausgefüllt, als ich das letzte Mal bei ihr übernachtet hatte, und eigentlich vorgehabt, sie am nächsten Tag einzuwerfen. Irgendwie hatte ich es dann vergessen und die Tasche mit ihrem kompletten Inhalt in den Schrank gestopft. Bevor wir Hals über Kopf unser Haus verlassen hatten, hatte ich zwar die Klamotten ausgepackt, aber ich konnte mich nicht erinnern, auch das Kuvert herausgenommen zu haben. Meine Reisetasche lag geöffnet auf dem Kofferständer, und als ich in der Seitentasche nachschaute, fand ich den Umschlag. Ich schaffte es, ihn zu öffnen, ohne das Papier zu zerreißen, und ersetzte das Bestellformular durch meinen Brief. Dann schloss ich den Umschlag wieder, strich die Anschrift durch und schrieb stattdessen Steves Namen und Adresse daneben.
    Als in der Nacht alle schliefen, schlich ich auf Zehenspitzen durch das dunkle Wohnzimmer zur Tür, entsicherte so leise wie möglich die Kette und schlüpfte in den Flur hinaus.
    Das Rascheln meines Pyjamas in dem menschenleeren Flur kam mir so laut vor, dass ich jeden Moment damit rechnete, ein Dutzend Türen würden aufgerissen werden und ein Stimmenchor würde anklagend fragen, was da draußen los sei. Was natürlich nicht passierte. Ich lief noch nicht einmal einem angetrunkenen Hotelgast in die Arme, der von der Bar in sein Zimmer wankte, sondern schaffte es völlig unbehelligt bis zu dem Briefkasten, der am Ende des Flurs zwischen den Aufzügen angebracht war. Nachdem ich mein kostbares Schriftstück eingeworfen hatte, kehrte ich in unsere Suite zurück, legte mich wieder ins Bett und schlief so tief und fest, wie ich es schon seit einer Ewigkeit nicht mehr getan hatte.

FÜNF
    Ich hatte den Brief Mittwochnacht eingeworfen und rechnete damit, dass Steve ihn am Freitag bekommen würde. In seinem Viertel drehte der Postbote seine Runde vormittags, und da seine Eltern beide arbeiteten und sein Bruder Billy freitags immer den ganzen Tag in der Schule war, ging ich davon aus, dass Steve selbst die Post aus dem Briefkasten holen würde, vermutlich nach den Proben für die Abschlussfeier.
    Ich verbrachte den Großteil des Samstags damit, mir sein Gesicht vorzustellen, wenn er den Umschlag mit der aufgedruckten Adresse sah, die durchgestrichen und in meiner Handschrift durch seine eigene ersetzt war. Ich malte mir aus, wie er dann auf seinem Bett saß und den Brief immer und immer wieder las, unfassbar glücklich und erleichtert darüber, endlich eine Nachricht von mir erhalten zu haben.
    Dieser Gedanke war für mich das, was für Mom ihre abendlichen Gläser Wein waren. Er heiterte mich auf und machte mir unsere Situation vorübergehend erträglicher. Ich brauchte diese Aufmunterung dringend, denn seit meiner Auseinandersetzung mit Jim war die Stimmung in unserer Suite deprimierender denn je. Wir gingen höflich miteinander um – »Könnte ich bitte das Salz haben?«, »Stört es dich, wenn ich umschalte?« –, aber davon abgesehen hatten wir seit unserem Streit kaum ein Wort gewechselt. Mom schien nichts davon mitzubekommen. Tagsüber schrieb sie, und abends war sie meistens so müde, dass sie schon vor Bram und mir schlafen ging.
    Es war nicht einfach, Jim auf diesem begrenzten Raum aus dem Weg zu gehen, aber ich versuchte es trotzdem. Statt mir tagsüber mit ihm Soaps anzusehen, guckte ich mit Bram seine Spielshows im Schlafzimmer, und trotz des feucht-schwülen Wetters verbrachte ich viel Zeit damit, auf dem Balkon zu sitzen, irgendwelche Romane zu lesen und den Hotelgästen beim Schwimmen im vierzehn Stockwerke

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