Schweig um dein Leben
gestern die große Tagung zu Ende ging.«
»Der Gang kann nicht leer sein«, flüsterte ich. »Ich habe Jim da draußen gesehen. Und wir haben beide gehört, wie er mit dem angeblichen Zimmermädchen gekämpft hat. Das ergibt keinen Sinn, es sei denn …«, ich hielt kurz inne, als mir ein Gedanke kam, »es sei denn, der Kerl ist abgehauen und Jim versucht, ihn zu verfolgen.«
»Ich hasse es, Max anzurufen, aber ich schätze, mir bleibt nichts anderes übrig«, sagte Mom seufzend.
»Onkel Max ist bestimmt sauer, wenn du das machst.« Bram war kreideweiß und seine Unterlippe zitterte. »Er hat gesagt, dass wir niemanden anrufen dürfen, nicht mal Lorelei.«
»Es ist mir vollkommen egal, ob er sauer wird«, sagte Mom. »Jim ist verschwunden, und wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist. Es liegt in Max’ Verantwortung, dafür zu sorgen, dass wir beschützt werden, und wenn Jim in Schwierigkeiten ist, dann muss Max sich darum kümmern.«
Sie versuchte es zuerst auf Max’ Handy, und als sie ihn dort nicht erreichte, rief sie bei ihm zu Hause an, allerdings wieder ohne Erfolg. Schließlich hinterließ sie eine Nachricht auf seiner Mailbox. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Draußen wurde es allmählich dunkel, ohne dass noch einmal die Sonne durchkam. In den gegenüberliegenden Fenstern gingen die Lichter an, aber der Abend war zu feucht, um draußen zu sitzen, und die geschäftigen Geräusche, die sonst um diese Zeit von der Bar im Innenhof zu uns heraufdrangen, wurden durch eine unheimliche Stille ersetzt. Da Mom kein weiteres Risiko eingehen wollte, verzichteten wir darauf, uns unser Abendessen bringen zu lassen, und aßen bloß Käse und Cracker zu Abend und ein paar von Brams Schokoriegeln.
Als Max schließlich bei uns eintraf, war es drei Uhr morgens. Bram war auf dem Sofa eingeschlafen und Mom und ich dösten in den Sesseln im Wohnzimmer. Aber ein Blick in Max’ angespanntes Gesicht genügte und wir waren wieder hellwach. Es war offensichtlich, dass er keine guten Neuigkeiten mitbrachte.
»Hast du etwas von Jim gehört?«, fragte Mom.
Max schüttelte den Kopf. »Und wir können es uns auch nicht erlauben zu warten, bis er sich gemeldet hat. Packt, so schnell ihr könnt, eure Sachen zusammen, damit wir euch von hier fortschaffen können. Bald wird es hier vor Polizisten nur so wimmeln, und die Medienfritzen werden ihnen wie ein Schwarm Aasgeier an den Fersen kleben. Ich will nicht, dass die Polizei, die nichts über eure Situation weiß, sich in den Fall einmischt und möglicherweise eure Identität preisgibt.«
Also schlichen wir uns wie Verbrecher auf der Flucht in die Nacht hinaus. Mom führte meinen wie schlafwandelnden Bruder an den Schultern, und wir nahmen den Dienstbotenaufzug in die Küche hinunter, wo wir uns an spiegelglatten Arbeitsflächen und chromblitzenden Herden vorbeitasteten. Die Dunkelheit wurde in unregelmäßigen Abständen vom nervösen Flackern irgendwelcher Leuchtdisplays durchbrochen, bis wir das Gebäude schließlich durch eine Tür verließen, die zu einer Laderampe führte.
Max’ Wagen parkte hinter den Mülltonnen im Hinterhof des Hotels. Der Gestank von verdorbenem Fleisch und faulendem Obst und Gemüse stand in scharfem Kontrast zu der vom Regen sauber gewaschenen Nachtluft. Hastig luden wir unser Gepäck in den Kofferraum und stiegen ein.
Als wir auf dem Freeway waren, drehte Max sich zu uns um.
»April, du hast gesagt, er wäre wie ein Zimmermädchen angezogen gewesen. Hast du sein Gesicht gesehen?«
»Er hat eine Perücke getragen, seine Haare konnte ich also nicht erkennen«, antwortete ich. »Ich glaube aber, dass sie dunkel sein müssen, weil er dunkle Augenbrauen hatte. Und seine Augen waren so schwarz, dass man die Iris nicht sehen konnte.«
»Ich weiß, wer das ist«, sagte Max ernst. »Sein Name ist Mike Vamp. Ich hätte wissen müssen, dass sie ihn auf euch ansetzen.«
SECHS
Der Himmel begann sich im Osten rosa zu färben, als wir nach einer sechzig Kilometer langen Fahrt Williamsburg erreichten und Max auf den Parkplatz vor einem unscheinbaren Motel am Stadtrand fuhr. Nachdem er den Wagen abgestellt hatte und wir alle ausgestiegen waren, ging er zielstrebig auf eines der von außen begehbaren Motelzimmer zu, schloss die Tür auf und bedeutete uns, einzutreten. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass auf einem der Doppelbetten ein Mann lag. Als er sich aufsetzte, sah ich, dass es mein
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