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Schweig um dein Leben

Schweig um dein Leben

Titel: Schweig um dein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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mussten wir dann …«
    »Ich habe euch deshalb so eilig aus dem Mayflower geschafft, weil ich wusste, dass es dort bald vor Polizei nur so wimmeln würde.« Max hielt einen Moment lang inne, bevor er fortfuhr. »Jim ist tot. Er hat eine Kugel in den Kopf bekommen. Seine Leiche liegt in einem Wäscheschrank am Ende des Flurs. Er trug eine Waffe bei sich, ist aber nicht dazu gekommen, sie zu benutzen. Offensichtlich hat er sie nicht aus dem Holster bekommen.«
    Einen Moment lang waren wir alle zu schockiert, um etwas zu sagen.
    »Seine Hände«, flüsterte ich schließlich. »Bei schlechtem Wetter litt er immer unter Arthritis.«
    »Dann hätte er diesen Job nicht annehmen dürfen«, sagte Max sachlich. »Der Mann war früher selbst ein Cop und kein Anfänger.« Er legte Dad eine Hand auf die Schulter, bevor er in beruhigendem Ton fortfuhr. »Ich muss nach Richmond zurück und mich um die Lage vor Ort kümmern. Wenn ich es heute Nacht noch bis nach Hause schaffen sollte, rufe ich euch an, und gleich morgen früh stelle ich den Antrag für das Zeugenschutzprogramm. Je eher wir euch aus Virginia rauskriegen, desto besser.«
    Nachdem er gegangen war, schloss Dad die Tür hinter ihm ab. Dann kam er zurück und legte Mom einen Arm um die Schulter.
    »Was heute Abend passiert ist, ist äußerst tragisch, aber Max hat recht«, sagte er. »Jim Peterson war ein Profi, der unverantwortlich gehandelt hat. Wenn er körperliche Probleme hatte, hätte er den Job niemals annehmen dürfen.«
    »Du hast leicht reden, George. Jim war unser Freund.« Mom schüttelte Dads Arm ab und drehte sich zu Bram und mir um. »Kinder, geht ins Bett und lasst uns versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Vielleicht schaffen wir es dann besser, das alles zu begreifen. Oder die ganze Sache stellt sich bloß als schrecklicher Albtraum heraus.«
    Natürlich erfüllte sich diese Hoffnung nicht, aber so unwahrscheinlich es scheinen mag, schliefen wir alle so tief und fest, als hätte uns jemand ein starkes Beruhigungsmittel verabreicht, dessen Nachwirkungen so heftig waren, dass wir sie auch dann noch spürten, als wir am nächsten Tag spätvormittags wach wurden.
    Die folgenden Tage verbrachten wir damit, auf dem Bett zu liegen, durch Zeitschriften zu blättern und uns dieselben Soaps und nervtötenden Spielshows anzuschauen, mit denen wir uns schon im Mayflower notgedrungen die Zeit vertrieben hatten. Und immer wieder drängte eine Frage in mein Bewusstsein, von der ich wusste, dass ich sie mir stellen musste. Die Antwort darauf war jedoch so unerträglich, dass ich sie jedes Mal beharrlich wegschob.
    Ich nahm alles um mich herum nur noch seltsam verschwommen wahr, und mir kam es vor, als wären meine Gedanken Luftblasen, die zerplatzten, sobald sie an die Oberfläche gestiegen waren. Wenn ich aufstand, um ein bisschen zu zappen oder ins Bad zu gehen, fühlte ich mich, als würde ich mich durch dichten Nebel tasten. Einmal stieß ich mich an der Ecke einer geöffneten Kommodenschublade und merkte erst abends unter der Dusche an dem großen blauen Fleck auf meiner Hüfte, dass ich mich verletzt hatte.
    Später wurde mir klar, dass wir alle unter Schock standen. Ich wusste, dass Jim tot war, aber wirklich begreifen konnte ich es nicht. Jedes Mal, wenn ich draußen vor unserem Motelzimmer einen Wagen vorfahren hörte, rechnete ich fast damit, dass gleich die Tür aufgehen und ein mit Brettspielen beladener Jim hereinspazieren würde.
    Der Mord an Jim war den Fernsehnachrichten nicht mehr als eine kurze Meldung wert , aber es gab einen langen Nachruf in der Norwood Gazette, die uns der Zimmerservice brachte. Ich las ihn, als wäre er einer von Moms Romanen – eine fiktive Geschichte über eine erfundene Figur. Als Hinterbliebene wurden eine Frau, zwei Söhne, eine Tochter und eine lange Reihe von Enkeln genannt, aber ich erlaubte mir nicht, an sie als echte Menschen zu denken, bloß als bedeutungslose Liste von Namen ohne Gesichter.
    Hätte ich zu Jims Beerdigung gehen können, wäre es vielleicht anders gewesen. Eine Trauerfeier drückt dem Tod den Stempel der Echtheit auf, genau wie das Wort »ENDE« auf der letzten Seite eines Romans. Als mein Großvater beim Golfen an einem Herzinfarkt starb, hatte ich das erst akzeptieren können, als ich mit meinen Eltern auf der Beerdigung war und den mit Blumen bedeckten Sarg sah. Erst in dem Moment war sein Tod für mich Realität geworden und erst dann konnte ich anfangen zu trauern.
    Da wir nicht auf Jims

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