Schweig um dein Leben
unter jedem unserer Schritte zu ächzen schienen. Dad tastete im Dunkeln ein paarmal vergeblich nach dem Schlüsselloch, bis er endlich traf und die Tür aufschloss. Stickige Hitze und Schimmelgestank schlugen uns entgegen. Der Geruch erinnerte mich an feuchte Handtücher, die zu lange im Wäschekorb liegen geblieben waren. Als Dad das Deckenlicht anmachte, entfuhr mir ein entsetztes Keuchen. Der Raum, in dem wir standen, war das scheußlichste Wohnzimmer, das ich je gesehen hatte – eng und heruntergewohnt, mit schäbigen Möbeln eingerichtet, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten, darunter eine durchgesessene Couch, zwei viel zu wuchtige Kunstledersessel und ein Esstisch aus Spanholz mit Plastikstühlen drum herum.
»Das ist ein Scherz«, sagte ich fassungslos. »Das kann doch nicht Max’ Ernst sein.«
»Es könnte schlimmer sein«, murmelte Mom. »Glaube ich zumindest.«
»Schade, dass wir Porky nicht mitnehmen durften«, sagte Bram. »Er würde es hier bestimmt super finden.«
Auf einmal fing Mom an zu lachen und dann lachten wir plötzlich alle. Nicht weil das, was mein Bruder gesagt hatte, so witzig gewesen wäre, sondern weil Lachen manchmal einfach das Einzige ist, was einem noch bleibt. Wir standen in diesem unfassbar hässlichen Wohnzimmer und stellten uns vor, wie begeistert Porky darüber wäre, sich auf sämtlichen Möbeln austoben zu dürfen, was ihm zu Hause in Norwood immer streng verboten gewesen war. Dann erkundeten wir den Rest des Hauses und lästerten über jedes Zimmer, in das wir schauten, lachten dabei Tränen, bis wir kurz davor waren, völlig hysterisch zu werden. Es gab sechs kleine Räume: das Wohnzimmer, die Küche, drei winzige Schlafzimmer und ein Bad. Jeder war auf seine Weise noch schlimmer als der, den wir uns davor angesehen hatten. Die Decken waren rissig und fleckig, von den Wänden bröckelte Putz, Rohre waren undicht, zwei Schlafzimmerfenster waren gesprungen, und als wir in der Küche das Licht anmachten, trat eine Armee Kakerlaken hastig die Flucht an.
»Wer will welches Zimmer?«, fragte Dad, und unser Lachen erstarb.
»Wir bleiben doch nicht etwa hier?«, sagte ich.
»Es wird uns leider nichts anderes übrig bleiben«, seufzte Dad. »Wir können froh sein, dass wir in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden, da steht es uns nicht zu, Forderungen zu stellen.«
»George …«, begann meine Mutter und korrigierte sich dann. »Ich meine, Philip.« Der fremde Name schien von den Wänden widerzuhallen. »Philip«, wiederholte sie, als müsste sie seinen Klang austesten. »Es wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, dich so zu nennen.«
»Ellen, Liebling«, sagte Dad sanft und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Es ist egal, wie wir uns nennen. Wir sind noch dieselben, die wir immer waren, habe ich recht, Kinder?«
Bram und ich nickten mechanisch. Wir waren noch dieselben, die wir immer waren. Aber bevor ich an diesem Abend einschlief, erinnerte ich mich an ein unbeschwertes Mädchen, das früher in einem Zimmer geschlafen hatte, das einer Prinzessin würdig gewesen wäre, und zwar in der Gewissheit, dass Prinzessinnen bis ans Ende ihrer Tage glücklich lebten. Ich vermisste dieses Mädchen und wünschte sie mir verzweifelt zurück.
ACHT
Die Nacht war grauenhaft.
Es war so unerträglich heiß, dass das Wort »heiß« eine ganz neue Bedeutung bekam. Nicht dass ich nicht an heiße Sommer gewöhnt gewesen wäre. Zu Hause in Norwood war unsere Klimaanlage von Anfang Juni bis in den September immer nonstop in Betrieb. Dort hatten wir wenigstens eine Klimaanlage. Das Haus in Grove City war bloß mit vorsintflutlichen Ventilatoren in den Fenstern ausgestattet.
Außerdem hatte das Haus so lange verschlossen in der prallen Sonne gestanden, dass es die Hitze wie ein Schwamm aufgesogen zu haben schien. Es war, als wäre man in einem Backofen eingesperrt. Mein winziges Schlafzimmer hatte nur ein einziges Fenster, das allerdings eher den Namen Luke verdient hätte und durch das wegen der Bäume und Büsche, die davor wucherten, nicht der kleinste Lufthauch wehte, falls da draußen überhaupt einmal so etwas wie eine leichte Brise aufkam.
Obwohl ich so müde war, dass ich fast augenblicklich einschlief, warf ich mich die ganze Nacht unruhig hin und her und träumte die seltsamsten Dinge. In einem besonders real wirkenden Traum stand ich auf einem Tennisplatz Bobby Charo gegenüber, der mir permanent hoch geschlagene Bälle zuspielte. Die Bälle
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