Schweig um dein Leben
ältere Frau mit einem Blindenstock umgerannt, die nicht sehen konnte, wie ich auf sie zugestürzt kam. Kurz dachte ich, die Blinde wäre meine Rettung, weil sie mit ihren langsamen tastenden Bewegungen den Leuten hinter mir den Weg versperrte, aber dann tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein riesiger, von einer Horde Kinder umringter Pluto vor mir auf, sodass ich nicht weiterkam.
»April!« Die Stimme war jetzt direkt hinter mir, und ich spürte, wie sich eine Hand um meinen Arm schloss. »Hast du mich denn nicht rufen gehört? Ich hab mir fast die Lunge aus dem Hals geschrien. Ist das nicht ein total irrer Zufall? Als ich dich gesehen hab, wusste ich sofort, dass du es bist, sogar mit den kurzen Haaren!«
Zögernd drehte ich mich um und meine Tennispartnerin Jodi Simmons fiel mir um den Hals. In den Wochen, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, hatte sich so viel in meinem Leben verändert, dass es fast ein Schock war, wie vollkommen unverändert sie wirkte. Die Wiedersehensfreude ließ sie über das ganze Gesicht strahlen, und ihr hübscher Mund sah aus, als würde er nie wieder aufhören zu lächeln. Plötzlich fühlte ich mich eine Million Jahre alt und kam mir an diesem Ort, an dem immer alles ein Happy End hatte, komplett fehl am Platz vor.
»Ich fasse es nicht!«, rief Jodi. »Es ist so schön, dich zu sehen, April! Was machst du hier?«
»Dasselbe wie du«, sagte ich und bemühte mich um einen beiläufigen Tonfall. »Ich tue so, als wäre ich wieder zehn und würde an Märchen glauben.«
»Dass ich ausgerechnet dich hier treffe!« Jodie hing an meinem Arm, als hätte sie Angst, ich könnte verschwinden, wenn sie loslassen würde. »Damit hätte ich wirklich als Allerletztes gerechnet! Hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns alle gemacht haben? Sherry hat erzählt, dass du ins Sekretariat gerufen wurdest, und danach bist du wie vom Erdboden verschluckt gewesen!«
»Meine Eltern haben beschlossen, dass sie eine kleine Auszeit brauchen«, sagte ich. Selbst in meinen Ohren klang die Erklärung lächerlich. Offensichtlich ging es Jodi genauso, denn sie zog eine Augenbraue hoch und schaute mich ungläubig an.
»Soll das ein Scherz sein?«, rief sie. »Niemand nimmt sich zwei Wochen vor den Prüfungen eine Auszeit! Nicht einmal deine Großmutter weiß, wo ihr seid. Ich bin einmal bei ihr vorbeigefahren, um deinen Tennisschläger zurückzugeben, und sie sagte mir, selbst sie hätte keine Adresse, an den sie ihn schicken könnte.«
»Es gibt einen Grund dafür«, sagte ich. »Aber ich darf nicht darüber reden. Wie läuft alles in Norwood? Wie hat das Tennisteam bei den Meisterschaften abgeschnitten?«
Jodi winkte kopfschüttelnd ab. »Es war eine Katastrophe ohne dich. Ich musste mit Cynthia spielen, und du weißt ja selbst, wie mies sie ist. Wir haben die ersten Doppel verloren, und das hat mich so fertiggemacht, dass ich es auch im Einzel nicht bis ins Finale geschafft hab. Aber genug von mir, ich will wissen, wie es dir geht. Du kommst doch zurück, bevor die Schule wieder anfängt, oder?«
»Nein, aber zum zweiten Halbjahr«, antwortete ich. »Sag Coach Malloy, er soll mir im Team einen Platz freihalten. Hör zu, Jodi, es war total schön, dich zu sehen, aber jetzt muss ich weiter und meinen Bruder bei Alice im Wunderland abholen.«
»Aber du kannst mich doch nicht einfach so hier stehen lassen, ohne mir zu erzählen, was passiert ist!«, protestierte Jodi. »Alle werden ausflippen, wenn sie erfahren, dass ich dich getroffen habe. Letztes Wochenende habe ich Sherry und Steve auf Ashley Steinmetz’ Pool-Party gesehen, und sie meinten, dass keiner von ihnen auch nur ein Wort von dir gehört hat, seit du einfach so verschwunden bist. Es kursieren alle möglichen verrückten Gerüchte, zum Beispiel dass ihr untertauchen musstet, weil dein Dad als Kronzeuge gegen diese Drogendealer ausgesagt hat, über die man in der Zeitung lesen konnte.«
»Sherry und Steve waren zusammen auf Ashleys Party?«, fragte ich. »Das bedeutet aber nicht, dass sie … dass sie zusammen sind , oder?«
Jodi senkte kurz verlegen den Blick. »Quatsch. Du weißt doch, wie Jungs sind, wenn ihre Freundinnen eine Weile nicht da sind. Ich bin mir sicher, dass es nichts zu bedeuten hat, also mach dir keine Gedanken. In ein paar Monaten wechselt Steve sowieso aufs College, und auf die ganzen Partys vor Weihnachten wird er natürlich mit dir gehen – bis dahin bist du doch wieder zurück, oder?«
»Klar«, sagte ich. »Vor allem
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