Schweig wenn du sprichst
willkommen, gläubig oder nicht. Heute macht ein Neugeborenes den ersten Schritt zu Gott.«
Lilly hatte Victor gebeten, kurz zur Familie und zu den Freunden zu sprechen, bevor die Zeremonie anfangen sollte, und er war nach einigem Zweifeln auch damit einverstanden. Er fasste sich kurz und sprach unkompliziert, und weil er mit Lilly vereinbart hatte, dass nur das Sakrament der Taufe gefeiert werden solle, aber keine reguläre Messe, standen alle nach einer halben Stunde wieder draußen. Ein guter Freund richtete die Agape aus. Die meisten Familienmitglieder fuhren abends wieder nach Hause. Nur der harte Kern der Freunde blieb. Es wurde gemütlicher und alle redeten freier.
»Dein Vater hat mich umarmt und geküsst«, sagte Victor.
»Der Wein schmeckt dir also?«
»Lilly, ich meine es ernst. Und er hat gesagt, dass ich ihn ab sofort mit Vornamen ansprechen soll und er hat mir für alles gedankt.«
»Ich habe meinen Vater nie jemanden in der Öffentlichkeit küssen sehen, und wenn ich darüber nachdenke, habe ich ihn überhaupt nie jemand anderen küssen gesehen als meine Mutter.«
»Dann hast du es jetzt also auch nicht gesehen, aber es ist trotzdem passiert. Wir haben heute eine Premiere!«, sagte Victor.
»Wow!«, sagte Lilly.
Victor lief zum Kinderwagen, in dem Moira schon seit mehr als einer Stunde ruhig schlief. »Auftrag erfüllt!«, flüsterte er. »Du warst heute fantastisch.«
Die Tische draußen wurden abgeräumt und alle suchten sich einen Platz am großen Stammtisch drinnen. Victor merkte, wie allmählich dieses diffuse Zwischenreich entstand, in dem Wein und Schnaps einen langen Tag zu tragen beginnen. Es wurde viel und laut gesprochen, die Gläser waren schneller leer als gefüllt, der erste Joint wurde gerollt.
»Noch ein stigmatisiertes Kind mehr auf diesem Erdball«, sagte einer von Victors jungen Freunden.
»Boh, heftig«, sagte seine Freundin.
»Ist es nicht unglaublich feststellen zu müssen, wie sehr unsere Generation sich immer noch den Wünschen unserer Eltern anpasst? Ich habe mich davon freigemacht. Mir machen sie nichts mehr vor«, fuhr er fort.
»Ich wage zu hoffen, dass Lilly und Victor diese Taufe auf eigenen Wunsch geplant haben«, sagte seine Freundin.
Es wurde still. Lilly sah Victor an.
»Ist es nicht unheimlich schön, wie gut es manchen Menschen gelingt, gelegentlich schwierige Entscheidungen zu treffen, und zwar aus Respekt vor dem, wofür einige unserer Eltern stehen und woran sie glauben?«, sagte Victor.
»Oh«, antwortete der Freund, »es war also der ›Respekt‹ vor dem Wunsch deiner Eltern. Das ist ja eine interessante Nuance.«
»Auf Moira!«, rief jemand aus der Runde und erhob sein Glas.
Lillys beste Freundin sprang auf und rief: »He, können wir nicht einfach die Tatsache genießen, dass zwei Menschen eine Entscheidung getroffen haben, mit der beide leben können? Der ganze andere Mist von euch interessiert mich nicht die Bohne!«
Sie wollte den Tisch verlassen, aber Victor hielt Andrea zurück. »Es ist schon gut. Du brauchst uns nicht zu verteidigen. Er greift uns nicht an, er zeigt nur, dass er sich selbst noch nicht klar darüber ist, egal was er sagt. Und außerdem durchlebt er gerade eine seiner dunklen Phasen«, sagte Victor ruhig.
»Nein, aber es ist doch wahr …«
»Ich weiß«, drängte Victor, »aber bleib jetzt einfach sitzen. Das sagt alles mehr über ihn aus als über uns.«
»Ich kriege einen Rappel bei solchen arroganten Meldungen«, schloss Andrea. »Als ob das alles so wichtig wäre.«
Victor merkte, dass sie sich beruhigte. Sie atmete tief ein und sagte: »Victor, Lilly hat mir neulich erzählt, dass du auf der Suche nach der Kriegsvergangenheit deines Vaters bist.«
»Stimmt.«
»Stört es dich, wenn ich danach frage?«
»Überhaupt nicht«, sagte Victor.
»Vielleicht solltest du mal mit meinem Bruder sprechen.«
»Wie könnte der mir dabei helfen?«
»Wir haben vor ein paar Monaten zufällig erfahren, dass mein Großvater kurze Zeit Lagerleiter in Mauthausen war.«
»Was?«
»Genau«, sagte Andrea, »und seitdem lässt ihn das Thema nicht mehr ruhen. Er hat angefangen zu lesen und alles nachzuschlagen, wie ein Besessener, und er wird jeden Tag depressiver. Ich glaube, dass es im guttun würde, mit dir darüber zu sprechen. Und vielleicht kommst du über seine Quellen auch weiter. Er schleppt jeden Tag Bücher aus der Bibliothek, von eBay und Amazon an. Nächtelang surft er im Internet und schreibt Briefe an alle
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