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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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seine Waffe einzusetzen. Denn er war genau so sanftmütig und hatte genauso viel Respekt vor dem Menschen und anderen Lebewesen wie ich. Ja«, seufzte sie, »es muss sehr hart für Albert gewesen sein, so weit von zu Hause in einer feindlichen Welt mit so viel Elend.« Aber sie habe jeden Tag ganz speziell für Albert gebetet und Gott habe sich ihr und ihm aus Dankbarkeit gnädig gezeigt. »Victor, du musst deinen Vater als Kreuzfahrer sehen, als einen Missionar.«
    »Tante, bevor du ihn heiligsprichst: Es sind in dieser Zeit abscheuliche Dinge passiert. Und er war offensichtlich ein Teil des Systems, das daran Schuld hat.«
    »Ja, aber vorsichtig. Wir leben hier zwar in einer geschlossenen Gemeinschaft, aber wir lesen durchaus Nachrichten. Natürlich gibt es auch schreckliche Geschichten aus dieser Zeit. Aber nicht jeder war schlecht. Und dein Vater gehörte zu denen, die es gut meinten. Es ist anders gekommen, auch für ihn. Er war für die gute Sache dabei, nicht wegen der Macht oder der unmenschlichen Dinge, über die später so viel geschrieben wurde.«
    Victor fühlte, dass Yvonne nervös wurde. »Tante, soweit ich weiß, war er bei der Waffen- SS und das waren doch diejenigen, die den Krieg angefangen und verloren haben, wenn ich mich nicht irre?«
    »Nicht sarkastisch werden, Junge. Ich bin zwar alt und lebe etwas zurückgezogen, aber ich bin nicht dumm. Erstens ist dein Vater mit der Flämischen Legion marschiert. Sie sind losgezogen, um gegen etwas zu kämpfen, nicht für etwas. Nicht um etwas zu bekommen, zu erobern oder an sich zu reißen. Diese jungen Männer haben etwas verteidigt, an das sie glaubten, und das hat nichts, aber auch rein gar nichts zu tun mit dem schrecklichen Ausgang. Zweitens ist dein Vater, genau wie alle anderen, die mit ihm weggegangen sind, Opfer eines kranken Mannes geworden. Glaubst du, sie wären jemals in diesen Zug gestiegen, wenn sie das alles bei ihrer Abfahrt gewusst hätten?«
    Victor dachte an sein Gespräch mit Lilly. Unbeantwortbare Frage, obwohl er die Antwort gern von seinem Vater gehört hätte. »Wie lange ist er weg gewesen? Weißt du das noch? Denn es muss doch wohl einen Moment gegeben haben, in dem auch ihm die Situation klar wurde?«
    »Von April ’42 bis, ich glaube, so ungefähr Ende ’44. Und die ganze Zeit hat deine Mutter auf ihn gewartet.«
    »Hm … muss schwer für sie gewesen sein«, sagte Victor nach eine Weile.
    »Ich kenne keine Frauen, die ihre Söhne, ihre Liebsten, ihre Brüder oder Männer mit Freude haben weggehen sehen, Victor. Aber als dein Vater schon lange wieder an der Front war, stellte Martha fest, dass sie schwanger war. Sie ist um der Ruhe und des Friedens willen, zu Hause und im Dorf, in ein Kloster nach Wallonien gegangen, wo du geboren wurdest.«
    »Warum?«
    »Sie waren noch nicht kirchlich verheiratet!«, sagte sie empört und laut. »Sie hatte also allen Grund, sich zu schämen und die Blicke der Leute zu meiden. Albert war ein vernünftiger Mann, herzensgut, und er liebte die Menschen. Sein Kampf war ein heiliger Kampf.«
    Victor hatte allmählich genug. Er kam nicht an gegen die Heiligsprechung seines Vaters durch diese schwesterliche Nonne, die ihr ganzes Leben im Kloster verbracht hatte. Und jedes Mal, wenn Victor mit einer Detailfrage kam, wusste sie nichts mehr. Daten, Dienstgrad oder Farbe der Uniform: Waren nicht alle Uniformen grün gewesen? »Victor, lass uns zusammen für deinen Vater beten«, sagte sie.
    Victor stand auf und dankte ihr. Er bete grundsätzlich nicht und habe außerdem noch viel zu tun.
    Bevor er die Tür erreichte, sagte sie: »Lebst du immer noch mit dieser Frau in Wien zusammen?«
    Victor drehte sich um und versuchte, sich zu beherrschen.
    »Ja, Tante. Mit Lilly und mit meiner Tochter, warum?«
    »Herzlichen Glückwunsch zu deiner Tochter. Ich hoffe, dass du die Socken bekommen hast. Aber du weißt, dass ich deine neue Beziehung nicht gutheißen kann«, sagte sie von oben herab.
    Victor wartete und schluckte, bevor er antwortete: »Du hast offensichtlich weniger Probleme mit der Situation, in der mein Vater und meine Mutter sich befunden haben, als mit meiner?«
    »Im Krieg war alles anders. Das kannst du nicht vergleichen. Nein, ich kann das in deinem Fall wirklich nicht gutheißen«, sagte sie giftig.
    »Das habe ich auch nicht erwartet und es ist mir sogar egal, Tante.« Victor sah, dass sie leicht zu zittern anfing. Er wollte den Betsaal verlassen.
    »Du bist nicht dein Vater«, rief sie mit

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