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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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er musste frustriert feststellen, dass es zu viele unbekannte Faktoren gab. Victor schaute aus dem Fenster und sah einen Großvater mit seinem Enkelkind über die Straße spazieren. »Jetzt brauche ich dich, um meine Fragen zu beantworten«, sagte er. »Jetzt!«
    Er stellte sich seinen Vater im Zug vor. Ein paar schnell gepackte Sachen in einem geliehenen Koffer. Ein paar Klamotten, ein Kamm und Brylcreme, Zahnbürste und körnige Zahnpasta in einem Töpfchen, ein Handtuch, Rasierklinge, Bürste, Rasierseife und sicher auch ein schwarz-weißes, an den Rändern gezacktes, viereckiges Foto seiner Eltern. Vielleicht auch von seiner Geliebten. Fühlte sein Vater sich genauso unwohl in Zügen wie er? War es ihm dort auch immer zu warm und zu eng? Fand Albert die Vorstellung ebenso beklemmend wie er, dass ein unsichtbarer Jemand vorne im Zug bestimmte, wie schnell er an sein Ziel kam? War ihm der Gedanke ebenso unerträglich, keinen Einfluss mehr zu haben auf Richtung und Dauer der Reise? Moiras Großvater war zweihundert Kilometer von hier entfernt aus dem Zug gestiegen, sechsundzwanzig Jahre alt. Victor war müde.
    Er versuchte es vor Lilly zu verbergen, aber er schlief schon seit ein paar Nächten nicht gut. Er fuhr immer wieder aus dem Schlaf hoch, wenn er versuchte, sich neben Albert in den Zug zu setzen, aber der war immer proppenvoll. Er versuchte es in der nächsten Nacht wieder, aber kam nie bis zu dem Fenster durch, an dem sein Vater saß, denn der Mittelgang war mit Koffern und Rucksäcken schlafender Soldaten vollgestellt. Und jede Nacht lagen mehr dort. Er versuchte mit seinem Vater zu sprechen und stellte ihm Fragen, die jedoch unbeantwortet blieben. Er rief von der offenen Wagontür aus und fluchte. Er trat auf die schlafenden Soldaten, gab ihnen Fußtritte und versuchte sie zu wecken, damit sie ihn endlich durchließen. Aber es klappte nicht. Bis es ihm endlich gelang, zusammen mit Albert auf dem Bahnsteig auszusteigen. Er sah seinen Vater verzweifelt an, aber der legte ihm den Arm um die Schultern und sagte, dass sie dort wären, wo sie hingehörten. Er fragte, warum sie dorthin müssten, und Albert schaute sich nur um und zog die Luft tief in seine Lungen. Manchmal gab Victor sich mit dieser Antwort zufrieden, aber meistens löste er sich aus der Umarmung. Dann rannte er in die Felder und rief, dass er blind sei, dass er nicht wisse, was er tue. Dass er nicht nachdenke und schreckliche Fehler begehe. Er schrie, dass Albert aufhören solle zu marschieren, dass er einfach die Reihen verlassen, auf ihn zugehen und zusammen mit ihm in die entgegengesetzte Richtung wegspazieren solle. Dort könnten sie dann in Ruhe reden und zusammen entscheiden, was weiter zu machen sei. Aber er solle nicht einfach mitlaufen, nicht gehorchen und sich nicht unterwerfen.
    Nach einer unruhigen Nacht fragte Lilly morgens meistens: »Warst du wieder bei deinem Vater?«
    Victor antwortete, dass er es weiter probiere.
    Er nahm den Brief zur Hand und betrachtete die zierliche, sichere Schrift.
    Lieber Victor,
    wir kennen uns nicht, aber ich habe deinen Vater gekannt. Marcel hat mir vor Kurzem eine Kopie deines Briefes und der Liste mit Fragen zukommen lassen, weil er sich erinnerte, dass Albert und ich damals gute Freunde waren. Ich bin sehr krank, halb blind und häufig im Krankenhaus, aber mein Sohn schreibt für mich auf, was ich ihm diktiere.
    Ich bin zusammen mit Albert in den Zug gestiegen, Ende März 1942. Wir waren ein Teil des neuen Rekrutenjahrgangs flämischer Legionäre und sind zur Ausbildungskaserne in Graz gefahren. Wir waren hundertzwanzig Mann.
    »Jaja, weiß ich alles«, sagte Victor ungeduldig.
    Weil dein Vater so spät eingezogen wurde – ich glaube, zwei Tage vor der geplanten Abfahrt – waren er und noch zwei weitere Soldaten nicht in Uniform. Auf dem Foto, das ich mitschicke, kannst du ihn mit einem starken Vergrößerungsglas vielleicht erkennen, er steht ganz rechts. Der Mann links von ihm bin ich. Ich war achtzehn.
    Victor suchte auf seinem Arbeitstisch nach dem Foto, fand es aber nicht. Er nahm den Umschlag und schüttelte ihn. Das Foto fiel auf den Boden. Er hob es auf und betrachtete den Mann rechts auf dem Gruppenfoto. Die Qualität war so schlecht, dass er unmöglich seinen Vater in einem der Männer erkennen konnte. Er nahm das Vergrößerungsglas vom Tisch und schaute sich das Foto näher an. Die Haare und die Brille konnten von Albert sein, stellte Victor fest, und die obligate Zigarette in seiner

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