Schweig wenn du sprichst
möglichen Einrichtungen, weil er in seiner Familie keine Antworten bekommt.«
»Das kenne ich«, sagte Victor, der sich im Saal umschaute. »Ist er noch da?«
»Er ist direkt nach dem Essen weggegangen«, sagte Andrea.
»Ich rufe ihn morgen an … Und wie reagierst du darauf?«
»Ich werde hyperaggressiv, weine oft, und obwohl ich eigentlich nichts mehr davon hören möchte, sitze ich am Ende des Tages jedes Mal im Zimmer meines Bruders, um ihm zuzuhören. Ich kann nicht damit umgehen und ich weiß nicht, was besser für mich ist. Nichtwissen ist unerträglich, aber Wissen noch viel mehr.«
Andrea starrte vor sich hin. Victor legte seine Arme um ihre Schultern.
»Ich habe meinen Großvater angebetet«, fuhr sie fort. »Ich war sein Lieblingsenkelkind. Wir waren immer gemeinsam unterwegs. Ich kriege die beiden Bilder, die ich jetzt von ihm habe, nicht zusammen. Als ginge es um zwei unterschiedliche Personen.«
Victor sagte, dass er sie verstehe.
»Und du?«, fragte sie nach einer Weile.
Victor guckte sie an.
»Oder möchtest du nicht darüber sprechen?«
»Doch, doch. Ich meine, ich weiß sehr gut, was du fühlst und was dein Bruder durchmacht. Ich vermute, dass diese beiden Bilder gar nicht zur Deckung gebracht werden können. Ich weiß nur noch nicht, warum. Ich dachte, weil in eurem Fall noch eine Generation dazwischen liegt, wäre alles etwas einfacher, aber das stimmt offensichtlich nicht.«
»Diese Zwischengeneration hat keine Bedeutung. Meine Eltern wissen erschreckend wenig darüber, und was sie wissen, halten sie vor uns Kindern verschlossen. Wir haben es versucht, aber es gibt kein Durchkommen.«
»Dann gibt es nicht so viele Unterschiede. Ich bin noch am Anfang, und mich macht das Ganze vor allem neugierig und unruhig. Ich wüsste gerne mehr, um alles besser zu verstehen.«
»Glaubst du, dass du es jemals verstehen wirst?«
»Das hoffe ich doch«, sagte Victor, »sonst hätte das alles wenig Sinn.«
»Das sagt mein Bruder auch. Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Na gut, ich glaube, wir sollten uns mal wieder unter unsere Freunde mischen. Wir sehen uns auf jeden Fall morgen Abend? Hat Lilly dich schon gefragt, ob du babysitten kannst?«
»Jaja, ich komm gern«, sagte Andrea und verließ den Tisch.
Als Victor am nächsten Morgen Kaffee machte und ein großes Frühstück vorbereitete, kam Lilly in die Küche.
»Schläft sie noch?«
»Ich glaube, noch ein bisschen.« Lilly legte ihre Arme über Victors Schultern und küsste ihn als morgendlichen Gruß. Sie zog ihn näher zu sich und sagte: »Danke für alles. Es war ein schöner Tag. Meine Mutter konnte gar nicht glauben, dass mein Vater so rührend Abschied von dir genommen hat.«
»Es war ein guter Tag«, sagte Victor.
Lilly schob sich auf die Bank in der Ecke der Küche, warf einen kurzen Blick auf die Sonntagszeitung und streckte sich wie eine träge Raubkatze.
»Wie war das eigentlich bei deinen Eltern?«, fragte Victor.
»Wovon sprichst du jetzt? Hinweise!«
»Vor und nach dem ›Anschluss‹.«
»Victor, bitte nicht heute.« Lilly machte ein T mit ihren Händen. »Bitte … Time-out, okay?«
Das Gespräch mit Andreas Bruder hatte zwei Stunden gedauert. Victor kam beladen mit Adressen offizieller Einrichtungen, Kopien aus Büchern und Blättern voll detaillierter Notizen nach Hause. Er breitete alles auf seinem Arbeitstisch aus und fing an zu schreiben. Am Abend brachte er sechs Briefe zur Post.
15
Yvonne sah nicht wie neunzig aus, sondern eher wie Ende sechzig. Victor fand sie immer noch genauso hässlich, aber eben jung hässlich. Sie holte ihn im Wartezimmer ab, vor dem Zaun des von der Außenwelt abgetrennt lebenden Ordens, und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. »Du musst einer von Albert sein«, sagte sie, »dafür brauche ich keine Brille.«
»Tag, Tante«, sagte Victor. »Danke, dass du mich empfängst.«
»Das geht nur, weil du zur Familie gehörst. Komm rein. Neben der Kapelle gibt es einen Betsaal, der auch als Begegnungszimmer verwendet wird, da haben wir Ruhe.«
Victor folgte Yvonne, die über den Marmorboden schlurfend durch die Gänge des Klosters vorausging. Sie stützte sich mit ihrer linken Hand auf einen braunen Stock. Victor wollte sich an ihrem rechten Arm unterhaken, aber sie winkte ihn energisch weg. »Ich schaffe das alles noch ganz gut alleine«, sagte sie, während sie ihren Arm zurückzog. »Ich brauche keine Hilfe.«
Victor entschuldigte sich, aber das tat ihm sofort wieder leid. Sie ist
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