Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
Vom Netzwerk:
niemand Besonderer, wiederholte er ein paar Mal für sich selbst. Er musste sie nicht mit übertriebener Höflichkeit behandeln. Sie war eine einfache alte Tante und weiter nichts.
    Da roch er ihn wieder, während er durch die Gänge lief. Den Geruch, den er so hasste und den er nicht loswurde. Er zählte seine Schritte, während er links und rechts zu den Türen schaute, die dem langen Korridor einen unangenehmen Rhythmus verliehen.
    »Ist dir kalt?«
    »Nein, alles okay«, sagte Victor und lockerte kurz seine Schultern. Die glatten, kalten Böden, die mit glänzendem Klarlack gestrichenen Holztüren, die Riesenschlösser aus Kupfer, die gemalten Heiligenbilder an der Wand und darunter die vertrockneten Yuccas in niedrigen grünen Plastikschalen mit braunen verkrusteten Ringen.
    Victor erkannte den üblen Geruch geschlossener Kommunen, den abgestandenen Küchenqualm und die Körpergerüche der Bewohner. Er schnappte nach frischer Luft. Es war so, als begegnete er dem Hasen im Kollegium wieder. Dessen kleines Heiligtum lag auf der zweiten Etage, achtundvierzig Stufen und einen siebenundfünfzig Meter langen Marmorkorridor von dem von Mauern eingeschlossenen Spielplatz entfernt. Victor hatte die Meter oft gezählt, weil es seine Gedanken ablenkte von dem, was dort auf ihn wartete. Seine Schritte wurden Woche für Woche langsamer und kleiner, aber die Entfernung zur Tür blieb unverändert. Jeder Meter schien ein Kilometer zu sein. Jede Stufe war ein Berg. Und dann stand er, achtundvierzig Stufen und siebenundfünfzig Meter später, in kurzer Hose und mit klammen Händen vor seiner Tür. »Jetzt einfach umdrehen und wieder nach draußen laufen, Victor«, murmelte er.
    So als hätte sie es gehört, nahm sie seine Hand und führte ihn in den Betsaal. Sie setzte sich ihm gegenüber auf die harte Bank und schaute, mit gefalteten, knochigen Händen in ihrem Schoß, direkt in seine Augen. Victor wurde übel und er versuchte, sich auf die Warze auf ihrer Oberlippe zu konzentrieren, aus der jedes Mal, wenn sie etwas sagte, ein dickes schwarzes Haar in einem kleinen Bogen hochschnellte. Er seufzte, atmete tief ein und dachte: Vor Gott zählt offensichtlich nur die innere Schönheit. Seine niedrige Eintrittsschwelle war auch für diesen Menschen schon früh ein Segen gewesen. Er schaute ihr unverwandt ins Gesicht und sah ihre stechenden Augen, ihren schnell urteilenden Blick mit dem trüben Zug, ein Antlitz wie eine faule Frucht, in die niemand hineinbeißen wollte.
    Noch während Victor den Grund seines Besuches erklärte, sprach Yvonne schon darüber, wie heldenhaft sie Albert gefunden hatte. Er musste näher heranrücken, denn sie flüsterte. »Ist es nicht bewundernswert, dass dein Vater so weit von zu Hause weg gegen den Kommunismus gekämpft hat? Denn wenn die Bolschewisten ihren Willen durchgesetzt hätten, dann müssten wir alle in den gleichen blauen Kitteln herumlaufen wie die Chinesen und ich würde nicht mehr leben, so viel ist sicher.«
    »Das versuche ich ja gerade herauszufinden, Tante«, antwortete Victor, »ob das alles wirklich so bewundernswert ist.«
    »Da musst du nicht lange suchen, Junge. Albert hat aktiv zur Rettung des Christentums beigetragen und daher auch zu meiner. Ich habe monatelang für ihn gebetet.«
    »Hast du ihn während des Krieges getroffen?«
    »Ich habe in dieser Zeit zweimal mit ihm gesprochen. Er war so schön in seiner Uniform, so stattlich und respekteinflößend«, fügte sie mit mehr Stimme hinzu.
    »Also hat er Heimurlaub gehabt?«
    »Das erste Mal kam er nach Hause, um unseren Bruder zu begraben. Der war schon krank, als Albert wegging, aber er hat denen, die davon wussten, verboten, mit Albert über seine Krankheit zu sprechen, um seinen Aufbruch nicht zu verhindern. Und dann war er noch einmal im August des folgenden Jahres zu Hause, weil er ein gesundheitliches Problem hatte, aber ich weiß nicht mehr, was das war. Er war damals ein paar Tage im Krankenhaus, es dauerte ihm alles zu lange. Ich glaube, dass er damals, auf Drängen von Martha, standesamtlich geheiratet hat, ich war nicht dabei. Und dann ist er schnell wieder weggefahren.« Yvonne wartete einen Augenblick.
    »Du ähnelst im sehr«, sagte sie vorgebeugt, während sie ihre gefalteten Hände auf seine legte.
    Victor zog sogleich seine Arme zurück. »Weißt du, was Vater während des Krieges genau gemacht hat?«
    »Natürlich. Er hat für die Kirche gekämpft. Nur, ich bin sicher, dass er Schwierigkeiten damit hatte,

Weitere Kostenlose Bücher