Schweig wenn du sprichst
schriller Stimme, »wenn du ihn so respektieren würdest, wie er alle respektiert hat, dann würdest du mich hier nicht ausfragen. Dann würdest du ihn akzeptieren, wie er war, mit Respekt und demütiger Verehrung.«
»Gottes Armee in Aktion!«, sagte Victor und ging.
Er spürte, dass Yvonne ihm nachstarrte, bis er die Tür hinter sich schloss. Die Masken sind gefallen, dachte Victor. Wir sind der leibhaftige Teufel für einander.
Victor stieg ins Auto, tippte die Adresse in das Navigationssystem ein und sah, dass es eine halbe Stunde Fahrt war. Er fand im Radio keine passende Musik. Er schüttelte alles, was von Tante Nonne an ihm kleben geblieben war, von seinen Schultern ab und tippte Lillys Nummer ein. Keine Antwort. Er hinterließ keine Nachricht. Er suchte nach einem anderen Sender und fand Radio 1. »… nicht viel, aber ab und zu ist was dabei.«
»Herr Professor, einer unserer Hörer hat uns die Frage gemailt, warum in vielen Familien von Ex-Kollaborateuren noch immer nicht über diese Zeit gesprochen werden kann.«
»Lassen Sie mich zuerst sagen – wie schmerzlich es für die Beteiligten auch sein mag –, es gibt keine Ex-Kollaborateure. Rein faktisch ist und bleibt jemand, der aktiv an der Kriegsmaschinerie Hitlers mitgewirkt hat und dafür verurteilt oder exekutiert wurde, ein Kollaborateur. Belgien ist so ungefähr das einzige Land, das nie eine kollektive Amnestie erlassen hat. Während Frankreich das schon in den fünfziger Jahren gemacht hat, wurde bei uns nie ein politischer Konsens darüber erreicht. Aber das nur am Rande. Ich habe 2002 mehr als fünfzig Interviews mit Kindern oder Enkelkindern von Kollaborateuren geführt. Ich unterscheide dabei zwischen denjenigen, die einen Elternteil während oder unmittelbar nach dem Krieg verloren haben – gefallen oder exekutiert –, und denjenigen, die in einer Familie aufgewachsen sind, in der die kollaborierenden Eltern, Vater, Mutter oder beide, verurteilt wurden und eine Gefängnisstrafe abgesessen haben.«
»Wo liegt denn der Unterschied?«, fragte der Moderator.
»Stark verallgemeinert fühlen sich die Nachkommen der ersten Gruppe als ›Opfer‹. Sie haben immerhin ein Familienmitglied verloren, weil es sich für die Seite des Aggressors entschieden hat. Ungeachtet der Motivation fühlen sie sich, wegen des Verlusts, als Opfer. Die zweite Gruppe fühlt sich eher schuldig. Die Kinder haben als Heranwachsende die Folgen der Strafe zu spüren bekommen, zu der ihre Eltern verurteilt worden waren. Häufig haben sie das sehr bewusst durchlebt und unter den Folgen des Rückfalls in die Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Isolation, der Abwesenheit der Vaterfigur gelitten, oft unter psychischen Depressionen, unter Minderwertigkeitsgefühlen, unter den Schuldgefühlen der Verurteilten gegenüber der eigenen Familie, unter gesellschaftlicher Ausgrenzung und so weiter. Diese Familien knabbern immer noch an den Fragen, weil sie einfach nicht zu beantworten sind. Denn für sich selbst meinen sie zu wissen, wie sie, aufgrund ihrer politischen oder moralischen Standpunkte, in der gleichen Situation gehandelt hätten, aber auf die Frage nach dem Motiv ihrer Eltern finden sie selten eine befriedigende Antwort. Das ist alles sehr sensibel, und ich muss sagen, die Situation hat sich eigentlich seit Kriegsende nicht verbessert.«
»Herr Professor, letzte Frage. 2003 haben Sie in einem Beitrag in De Standaard geschrieben, dass die Quellen versiegen. Was hat sich seit diesem Artikel an der Situation verändert?«
»Geschichtsschreibung basiert auf Fakten. Was an Faktenmaterial während des Krieges und danach verloren gegangen ist, ist unvorstellbar. Vieles von dem, was wir heute wissen, stammt aus mündlicher Überlieferung. Und obwohl diese Informationen häufig nicht mehr kontrolliert werden können und nicht nur aus reinen Fakten, sondern auch aus Interpretationen bestehen, bleiben sie eine wichtige Quelle der historischen Forschung. Was aufgrund von Schuldgefühlen oder der Opferrolle nie ans Tageslicht gekommen ist, sprengt jede Vorstellungskraft. Und diejenigen, die uns dabei helfen können, die Zeugen erster Hand, die primären Quellen, sterben aus. So geht auch die Geschichte ›zwischen den Zeilen‹ allmählich verloren, und das ist für einen Forscher natürlich sehr frustrierend. Daran hat sich seit diesem Artikel nichts geändert.«
»Professor Mertens, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.«
»Gern geschehen.«
»Unsere Hörer, die mehr
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