Schweig wenn du sprichst
über das Thema dieser Sendung wissen möchten, verweisen wir auf unsere Website an der Universität, die am Ende der Sendung wiederholt wird. Ein Transkript dieses Gesprächs kann über die Website von Radio 1 bestellt werden. Klicken Sie auf ›Dossiers‹ und das heutige Datum. Es werden vier Euro Verwaltungskosten berechnet.«
Victor drehte nach der Sendung das Radio aus. »Ein Typ nach meinem Geschmack«, sagte er laut und notierte die Internetadresse auf der Rückseite eines Strafzettels.
Victor wurde in das Zimmer geführt und sah ihn an einem schweren Tisch aus Eichenholz sitzen. Er war ein frischer Achtziger, völlig ergraut, mit kurzen, stacheligen Haaren, und er hatte noch immer die schelmischen Augen, an die Victor sich von damals erinnerte, als er auf dem Bauernhof sein Kirmesgeld von ihm bekommen hatte. Seine Vorderzähne waren immer noch nicht ersetzt worden. Er wohnte in einem Heim, in seinem eigenen, kleinen Einzimmerappartement, das aus vierundzwanzig Quadratmetern mit integriertem Ess- und Schlafbereich sowie einem Badezimmer bestand.
»Endlich sehe ich dich mal wieder, Victor«, sagte Charles, und wegen der Betonung, die Charles auf »endlich« gelegt hatte, vermutete Victor, dass er dieses Wort in den letzten Jahren nicht oft zu jemandem hatte sagen können.
»Hier, Onkel, das ist für dich.«
Victor gab ihm das Geschenk, das er am Vorabend sorgfältig eingepackt hatte. Eine Flasche Jenever, eine Flasche Elixir d’Anvers, Butterkekse und Zigaretten. Victor lachte, denn er hatte seine Wette mit sich selbst gewonnen: Es waren die Zigaretten, die Charles zuerst auspackte, und er zündete sich sofort eine an.
»Ohne Filter«, sagte Charles, »dass du das noch weißt.«
»Wie geht es, Onkel?«
Charles begann jeden Satz mit einem lang gezogenen schwebenden »Ja«. Irgendjemand müsse wohl doch dort oben sein, der ihn gern hatte.
Victor dankte ihm für die Postkarte, die er geschrieben hatte, und sagte, er verstehe, dass der Onkel nicht auf seinen Brief geantwortet habe.
»Ja …«, aber diese Karte hatte er selbst auch nicht mehr schreiben können, das hatte eine jüngere Frau von Ende siebzig, die auf demselben Flur wohnte, für ihn getan. Denn er hatte Rheuma in seiner rechten Hand. Sie hingegen war noch gut zu Fuß und zu Hand, er lachte und hustete, bis ihm die Tränen herunterliefen.
Er erinnere sich an die Kriegsjahre, als wären sie gestern gewesen, sagte er plötzlich ernster. Albert sei immer schon anders gewesen als seine Brüder und Schwestern, immer etwas ruheloser, und er habe mehr Mumm gehabt. Er erinnerte sich, dass Albert mehr als einmal mit seinem Vater über den Bauernhof diskutiert hatte und dass er für sich selbst dort keine Zukunft sah. Sein Vater war fassungslos gewesen, als Albert seine Sachen gepackt hatte und aufgebrochen war, um in die Fremde zu ziehen. Und dass er sich von seinen Brüdern und Schwestern noch nicht mal richtig verabschiedet hatte. Er hatte nicht abgewartet, bis alle zu Hause waren. »Warum möchtest du erst jetzt alles über Albert erfahren?«, fragte Charles. »Es sind doch alle tot. Die besten Geschichten über Albert liegen anderthalb Meter unter der Erde und werden dadurch natürlich nicht besser.«
Victor spürte, dass sein Onkel eigentlich nicht viel erzählen konnte. Charles hatte Albert zum ersten Mal gesehen, als er in seiner steif gebügelten deutschen Uniform, mit Käppi und Stiefeln nach Hause gekommen war und dort das schönste Pferd aus dem Stall geholt hatte, um damit in die Stadt zu reiten. Charles wusste, dass Marthas Vater mit diesem Aufritt zunächst nicht viel anfangen konnte, weil er selbst Mitglied der weißen Brigade war. Marthas Vater war komplett ausgerastet, als jemand am Ende des Krieges ein schwarzes Hakenkreuz auf die Fassade seiner Wohnung gemalt hatte, nur weil allgemein bekannt war, dass Marthas Verehrer nach Deutschland gegangen war. Und nein, er hat eigentlich nie genau gewusst, was Albert in der Fremde angestellt hatte. Er wusste zwar noch, dass Albert bei seinem Besuch zusammen mit Marthas Vater auf dem Speicher englisches Radio gehört hatte. Ob das bedeutete, dass Albert an seiner Sache zweifelte oder ob er einfach einen besseren Stand bei Marthas Eltern haben hatte wollen, wusste Charles aber nicht. Als alles vorbei gewesen war, wurde nicht mehr darüber gesprochen. Dagegen wusste er noch genau, dass Albert sofort geheiratet hatte, als er freikam und aus der Gegend weggezogen war.
»Warte Onkel«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher