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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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bist du nicht allein«, sagte Markus. »Was meinst du, warum ein Viertel der Österreicher ab und zu am Sonntag in die Kirche geht? Und noch einmal fünfundzwanzig Prozent zieht es jede Woche für mehr als einen Schluck in die Weingärten im Burgenland. Und die andere Hälfte ist in Therapie. Ich übertreibe natürlich.«
    »Natürlich«, sagte Victor. »Aber ich fürchte, das bringt mich nicht weiter.«
    »Gott, Bacchus und Freud. Hältst du die drei nicht für ein gutes Team? In ihrem Wettstreit ist Gott eindeutig auf der Verliererseite. Obwohl er der billigste ist.«
    Victor war verwirrt. »Ich hole Kaffee«, sagte er. »Ich bin sofort wieder da.« Er stand auf.
    »Bringst du mir einen Tee mit? Danke, das ist nett von dir.«
    Victor zweifelte, ob es eine gute Idee war, mit Markus über seinen Vater zu sprechen. Aber jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Als er wieder in das Arbeitszimmer trat, hatte Markus die Zeitung in der Hand, aber er faltete sie sofort zusammen.
    »Victor, ich werde dir keinen Unterricht in österreichischer Geschichte geben, aber mit dem, was du dein Problem nennst, versuchen wir schon seit sechzig Jahren zu leben. Und ich vermute, dass dieses Problem vor allem darin liegt, dass du die Entscheidung deines Vaters zu verstehen versuchst. Und das ist in seinem Fall … wie war sein Name?«
    »Albert.«
    »Das ist im Fall Albert schwieriger als bei jemandem von uns.«
    »Darf ich fragen warum?«
    »Weil der ›Anschluss‹ Österreichs unter anderem auf einer politischen und gesellschaftlichen Basis beruhte, die in Flandern damals nicht existiert hat.«
    »Stimmt. Unsere Situation war anders«, sagte Victor.
    »Du darfst nicht vergessen, aus welcher Hölle wir, nach den zwanziger und dreißiger Jahren, kamen. Die große Mehrheit litt Hunger, unsere Wirtschaft lag am Boden, unsere Politik war unentschieden. Hitler war auf völlig legale Weise an die Macht gekommen und zeigte uns ein Deutschland, das sich veränderte. Die Deutschen hatten wieder Arbeit, die Infrastruktur und die Industrie blühten langsam auf, es gab Ordnung und einen – im Vergleich zu Österreich – unglaublichen Optimismus und Zusammenhalt.« Markus fuhr sich mit den Händen durch das Haar und schnaubte durch die Nase. »Unsere Entscheidung, ’38 dem Großdeutschen Reich beizutreten, war für viele Nationalsozialisten ein seit Langem gehegter Traum. Andere fühlten sich wiederum bestätigt, als Hitler ’39 in Polen einmarschierte und es ausplünderte. So konnten wir zusehen, was mit uns passiert wäre, wenn wir uns gegen den ›Anschluss‹ gewehrt hätten.«
    »Mir ist nicht ganz klar, warum die Situation in Flandern so anders gewesen sein soll.«
    »Angst, Victor, ist zwar ein schlechter Ratgeber, aber sie hat unsere Entscheidung damals sicher beeinflusst.« Er stand auf und blickte aus dem Fenster in das nebelige Tal hinein. »Und du darfst nicht vergessen, dass hier eine Atmosphäre und Mentalität herrschte, die davon ausging, dass wir sowieso besetzt und annektiert würden. Dann lieber ohne Blutvergießen. Obwohl letztlich doch noch mehr als hunderttausend Österreicher während und nach dem Krieg den Tod gefunden haben. Und das waren zunächst nur die Intellektuellen, politischen Opfer, Widerstandsleute, Juden und Nicht-Juden, die Schwierigkeiten gemacht haben. Die Soldaten, die an den Fronten fielen, sind dabei noch gar nicht mitgezählt. Soweit ich weiß, war Belgien in einer ganz anderen Situation, und daher kann Alberts Motivation auch nicht dieselbe gewesen sein.« Victor stand auf und ging zur Bibliothek. Er spürte Markus’ Blick auf seinem Rücken.
    »Das habe ich auch immer so gesehen. Und wenn ich daran denke, dass wir in Flandern – je nach Quelle – nur von vier- bis sechstausend Flamen sprechen, die sich der Flämischen Legion und der Waffen- SS angeschlossen haben, dann sind das tatsächlich ganz andere Voraussetzungen.«
    »Ja, die Anzahl spielt eigentlich keine Rolle«, sagte Markus. »Die sechstausend Flamen können allesamt überzeugte flämische Nationalisten gewesen sein, die genauso sehr den Anschluss an das Deutsche Reich suchten wie die Nationalsozialisten bei uns.«
    Er ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich.
    »Nach allem, was ich dazu gelesen habe, glaube ich, dass in Flandern viel mehr Hoffnung als in Österreich existierte, innerhalb dieses großen Reiches die Selbständigkeit mit einer ganzen Reihe spezifischer Vorteile zu erreichen.«
    »Das ist ein guter Punkt«, sagte

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