Schweig wenn du sprichst
wir gegen elf Uhr das Taxi nehmen, sind wir mehr als pünktlich und Moira macht ihr Mittagsschläfchen während des Fluges.«
»Perfekt«, sagte Lilly. »Ich bin in zwei Stunden fertig. Versprochen.«
Victor hatte beschlossen, einen Versuch zu unternehmen, die Pattstellung – wenn er mit Lilly darüber sprach, nannte er es »Fesseln und Knebel« – aufzulösen. Moira konnte schon laufen und fing an recht gut zu sprechen und seine Mutter hatte sie noch immer nicht gesehen. Aber vielleicht war auch alles zu viel des Guten. Sein Terminkalender war überfüllt. Es stand nicht nur ein Besuch bei seiner Mutter auf dem Programm. Er hatte Lilly versprochen, alle Orte zu besuchen, die im Tagebuch ihres Vaters vorkamen. Er hatte eine Verabredung mit Walter und er plante, Markus’ Hauswirtin zu besuchen. Und das alles in drei Tagen. Nach der Landung holte er das Mietauto am Flughafen ab, fuhr mit Lilly und Moira durch die flache Landschaft und zeigte hier und da auf etwas, das ihm wichtig war oder mit einer Anekdote verbunden, oder einfach weil es ihm gefiel.
»Flach«, sagte Lilly. »Fehlen euch die Berge und Täler nicht? Die Veränderung der Landschaft, Hänge, Gipfel und Seen?«
»Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen«, sagte Victor. »Was glaubst du, warum so viele Flamen jedes Jahr aufs Neue in eure Berge einfallen? Einfach weil sie irgendwann zum ersten Mal dorthin gereist sind und mitbekommen haben, dass es mehr gibt als flach. Und weil das Gefühl, dort ganz oben auf einem Gipfel zu stehen, sie nicht mehr loslässt. Und so liefern sie alle zusammen einen substanziellen Beitrag zu eurer Wirtschaft.«
»Danke allen Flamen!«, rief Lilly lachend. Sie fand das Land langweilig, zu wenig Grün und zu viele Häuser. Sie fragte, ob hier irgendwo etwas Platz zum Atmen sei, und sagte, sie sei froh, dass Moira hier nicht aufwachsen müsse.
»Nicht übertreiben, Liebes. Hier leben mindestens genauso viele glückliche Leute wie in Österreich. Und genauso viele Genies, Deprimierte, Verrückte, Einsame, Exzentriker und dumme Politiker. Sie können sich nur nicht so gut verstecken wie bei euch und sie beherrschen das Jodeln nicht!«
»Okay, okay, ich höre schon auf!«, lachte Lilly und kniff ihn ins Bein.
Martha stand an der Vordertür. Sie fummelte ein bisschen an den Blumenkästen links am Fenster herum, strich mit beiden Händen die Falten ihres Kleides glatt und behielt die Auffahrt im Auge.
»Bereit?«, fragte Lilly.
»Dafür bin ich nie völlig bereit«, antwortete Victor, »aber an mir soll es nicht liegen, okay?«
»Here we go!«, sagte Lilly und öffnete die Autotür. Sie ging auf Martha zu und umarmte sie.
Victor hörte sie »Tag, Oma« sagen und nahm lächelnd Moira vom Kindersitz auf seinen Arm. Er ging auf seine Mutter zu und sagte: »Und das hier ist Oma.«
Martha streckte ihre Arme in Moiras Richtung aus und ließ ein lang gestrecktes »Nuuun« hören, das Moira so abschreckte, dass sie sofort zu kreischen anfing.
»Gib ihr etwas Zeit, Oma. Wir sind schon seit etwa vier Stunden unterwegs, sie hat wenig geschlafen und es ist alles noch fremd für sie.«
»Ja, was erwartest du denn, Kindchen? Was erwartest du, wenn es so lange dauert, bis wir einander einmal sehen?«, sagte sie in Moiras Richtung.
Victor schaute Lilly an. Sie nickte und schloss kurz die Augen. Er verstand ihr Signal.
»Komm herein. Bitte Lilly, willkommen.«
Sie gingen zusammen ins Haus, und Victor ließ Moira einfach herumlaufen.
»Pass auf, dass sie sich nicht irgendwo stößt«, sagte Martha.
»Sie ist vorsichtig«, antwortete Victor.
»Aber lass dich einmal anschauen. Wie groß du schon bist! Du wirst bestimmt so groß wie dein Vater«, sagte Martha.
»Ich hoffe eher, so groß wie ihre Mutter«, sagte Victor.
»Sie sieht ganz, aber wirklich ganz genau so aus wie du!«
»Was sagt sie?«, fragte Lilly auf Englisch.
»Dass sie gar nichts von dir hat«, antwortete Victor mit einem Zwinkern.
Victor sah, dass der dünne Filterkaffee, die Kekse und die obligatorischen Mon Chérie bereitstanden. Sie hatte sich Mühe gegeben. Er bemerkte auch, dass zum ersten Mal Bilderrahmen auf dem Geschirrschrank in der Küche standen. Er ging hin und schaute sich die alten, quadratischen Schwarz-Weiß-Fotos an; mehr als die Hälfte davon zeigten ihn und seine Mutter, die anderen ihn mit seinen Schwestern und seinem Bruder und eines ihn mit seinem Vater. »Wo hast du die gefunden?«, fragte er.
»Ach, ich habe vorige Woche etwas
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