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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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Mertens im Auftrag eines alten Freundes von ihr, aus den fünfziger Jahren.«
    Stille. Victor hörte, dass die Gegensprechanlage aufgelegt wurde. Er ging ein paar Schritte rückwärts und schaute zur ersten Etage hinauf. Die Gardinen waren zugezogen. Als die Vordertür sich öffnete, stand eine uralte Frau mit einem Gehgestell vor ihm, ihre Haare waren unter einem Kopftuch versteckt.
    »Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber ich suche Frau Mertens«, wiederholte Victor.
    »Ich habe Sie verstanden, junger Mann. Die Frau wohnt hier nicht mehr.«
    »Aber ihr Name steht noch auf der Tür.«
    »Ich meine, offiziell wohnt sie noch hier, aber sie ist nicht mehr da.«
    »Äh … Lebt sie noch?«
    »Natürlich lebt sie noch, aber nicht hier.«
    »Verstehe«, sagte Victor, »aber können Sie mir auch sagen, wo ich sie finden könnte?«
    »Zonneglans.«
    »Zonneglans?«
    »Zonneglans«, wiederholte die alte Dame. »Da wohnt sie seit zwei Jahren. Ich besuche sie jede Woche und bringe ihr die Post.«
    »Wie komme ich dahin?«
    »Mit dem Bus oder dem Taxi«, sagte sie.
    »Nein, ich meine, wie lautet die Adresse?«
    Victor öffnete die Glastür und wollte sofort wieder raus. Er war in einem glühend heißen Käfig aus Glas ohne frische Luft gelandet, vor einem viel zu hohen Schalter, hinter dem eine dicke Frau saß und sich mit einem Taschentuch die Stirn wischte. »Frau Mertens, bitte?«
    Die Rezeptionistin schob ein Stück Papier in seine Richtung. »Ausfüllen!«
    Sie tippte auf ihrer Tastatur und fragte: »Lucretia oder Magdalena?«
    Victor fand Markus’ Zettel in seiner Hosentasche und antwortete:
    »Lucretia.«
    »Zimmer 431. Aber sie ist gerade auf der Kreativstation.«
    »Und wo …«
    »Folgen Sie der orangefarbenen Linie auf dem Boden, die führt Sie hin«, sagte die Rezeptionistin, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
    »Hallo?«, beantwortete Victor sein Handy.
    »Geht es?«
    »Ich folge gerade einer orangefarbenen Linie«, sagte Victor. »Das hättest du nie von mir gedacht, was?«
    »Du steckst voller Überraschungen, warum keine orangefarbene Linie?«
    »Ist etwas?«
    »Wo kann ich am besten mit Moira hingehen, während du beschäftigt bist?«
    »Fünfhundert Meter vom Hotel gibt es heute einen Hundemarkt. Da gibt’s auch Vögel, Enten, Schildkröten, Kaninchen; alles, was du nur willst. Wäre das vielleicht eine Idee?«
    »Und an der Rezeption können sie mir erklären, wie ich da hinkomme?«
    »Hundertprozentig.«
    »Dann auf zu den Tieren. Rufst du mich an, wenn du fertig bist?«
    »Sicher. Bis später.«
    Am Ende der orangefarbenen Linie stand eine Doppeltür sperrangelweit offen. Victor sah acht alte Leute mit leerem Blick in ihren Rollstühlen sitzen. Zwei machten mit Hilfe von Pflegern Arm- und Beinübungen. Er wusste nicht warum, aber er ging direkt auf eine der Patientinnen zu und hockte sich vor sie hin. Was für eine unglaublich schöne alte Frau, dachte Victor. Sehr gepflegt, hochgestecktes blondes Haar, lange, zarte Hände, auf denen die blauen Adern wie kleine Flüsse lagen, ein starkes Kinn und eine feine Nase. Sie saß kerzengerade, die Schultern nach hinten gebogen. Victor merkte, dass ihre Augen zwar auf ihn gerichtet waren, aber es schien, als sähe sie ihn nicht. »Lucretia?«
    Die Frau reagierte nicht.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte einer der Pfleger.
    »Ist das Frau Mertens? Ist das Lucretia?«
    »Ja, aber das weiß sie selbst nicht immer so genau. Sind Sie ein Verwandter?«
    »Nein, der Freund eines sehr alten Freundes von ihr. Wie geht es ihr?«
    »An manchen Tagen etwas besser als an anderen, aber die Augenblicke, in denen sie luzid ist, werden ständig kürzer und seltener. Sonst hält sie sich relativ gut. Wir nennen sie hier alle Lucy. Auf diesen Namen reagiert sie besser.«
    »Bekommt sie oft Besuch?«
    »Zwei bis drei Mal pro Woche kommt ihr Sohn vorbei.« Der Pfleger ließ sie allein.
    Victor merkte, dass sie fast durch ihn hindurch sah. Er suchte in ihren Augen nach Anzeichen von Emotion, vergeblich. Er nahm das kleine Geschenk, das Markus ihm mitgegeben hatte, aus der Jackentasche und drückte es ihr in die Hände. Sie rührte keinen Finger. Er holte sich einen Stuhl und setzte sich vor sie hin. Er beugte sich vor und legte seine Hände auf ihre. Da fing sie an, seine Hände zu streicheln, beinahe mechanisch, immer mit derselben Bewegung.
    »Soll ich das Päckchen für dich aufmachen, Lucy?«, fragte Victor leise.
    Er nahm es ihr aus den Händen und riss den kleinen

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