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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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aufgeräumt«, sagte sie, als sei es die normalste Sache der Welt. Sie nahm eines der Fotos vom Schrank und gab es Lilly. »Ganz Victor«, sagte sie und zeigte erst auf Moira und dann auf ein Foto, auf dem er ungefähr in Moiras Alter war und in einer Pluderhose auf einem Schafsfell saß.
    »Naja«, sagte Lilly, »mit ein bisschen Fantasie, ja. Die Augen ganz sicher, aber die Haare auf keinen Fall. Aber ein tolles Foto.«
    Moira war wie vom Erdboden verschwunden. Victor lief durch das Haus und fand sie am großen Fenster im Wohnzimmer. Sie hatte etwa die Hälfte des Fensters abgeleckt und malte mit beiden Händen Spuckeringe. Als Victor sich neben sie hinhockte, zeigte sie auf die Enten, die direkt am Fenster in der Sonne schliefen. »Komm, wir gehen nach draußen«, sagte er und gab Moira einen Finger. Sie folgte ihm durch die Terrassentür in den Garten und lief sofort auf die Enten zu. Lilly war ihm gefolgt und nahm seine Hand. Martha stand in der Tür und sah zu. »Geht es?«, fragte Lilly.
    »Es geht«, sagte Victor.
    »Ich bleibe ein bisschen draußen mit ihr. Geh du ruhig zu deiner Mutter.«
    Victor ging hinein und sah, dass seine Mutter ein Fotoalbum auf den Küchentisch gelegt hatte. Er nahm einen Stuhl und fing an darin zu blättern. Er schaute seine Mutter an. »Die habe ich noch nie gesehen.«
    »Wie gesagt, ich habe etwas aufgeräumt.«
    Er war auf jedem Foto. In den Armen seiner Mutter als frisch geborenes Baby, als Kleinkind im Garten des ersten Hauses, an das er sich erinnern konnte. In seinem Tretauto, auf einem kleinen Fahrrad, bei der Erstkommunion in der Schlange auf seine erste Hostie wartend, mit seinem Vater auf dem Großglockner. »Siehst du, ich hatte recht. Ich habe Lilly kürzlich noch erzählt, dass ich da einmal gewesen bin!«
    Das Foto von seiner feierlichen Kommunion zeigte zwar seinen Bruder, aber sonst stimmte alles: Victor als Messdiener, Victor im Pfadfinderlager, alte Klassenfotos. Ganz steif in seinem ersten Smoking bei der Hochzeit seiner Schwester, mit Bart und langem Haar. Sein erstes Auto, auf das er riesengroß die Nummer 69 geklebt hatte. Victor lächelte.
    Die Nummer hatte er am nächsten Tag mit einem Rasiermesser wieder abkratzen müssen, sonst wäre er die Autoschlüssel los gewesen. Ein Zeitungsartikel über eine Promotion, eine Postkarte aus Tansania, eine aus Südafrika, ein Foto aus einer Wochenzeitung von ihm und sechs anderen auf sechstausend Metern Höhe in Indien. »Du hast aber gründlich aufgeräumt, Oma«, sagte Victor.
    »Ich dachte, dass es Lilly Freude machen würde. Das Album ist für euch.«
    »Das macht es bestimmt. Und mir auch. Danke.«
    Lilly kam mit Moira wieder herein. »Ich glaube, sie hat Hunger, Victor. Kannst du ihr etwas machen?«
    »Oma, darf ich an den Kühlschrank?«
    »Nimm dir, was du willst. Soll ich etwas machen?«, fragte sie.
    »Nein, bleib ruhig sitzen. Ich mache das schon.«
    Victor schnitt schnell etwas Gemüse klein, gab eine Kartoffel dazu, suchte nach Gemüsebrühe, ein bisschen Zwiebel, Pfeffer und Salz und machte in zehn Minuten eine dicke, gemischte Suppe.
    »Wo hast du das gelernt?«, fragte Martha übertrieben erstaunt.
    Victor zeigt auf Lilly.
    »Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?«, fragte Lilly.
    »Du hast mir das Kochen beigebracht, und meine Mutter kann es nicht glauben.«
    »Sag ihr, dass du ein sehr guter Koch bist.«
    »Lilly sagt, dass ich das Kochen von dir gelernt haben muss.«
    Martha schüttelte heftig ihren Kopf. »Nein, nein«, sagte sie und lächelte Lilly an.
    Lilly verstand nichts mehr. Sie warf Victor einen strengen Blick zu.
    »Oma, wir müssen in einer Stunde aufbrechen. Wir kommen morgen Abend noch einmal vorbei, in Ordnung?«
    »Was musst du noch alles machen? Arbeiten?«
    »Arbeiten«, sagte Victor.
    »Sie ist so süß. Schau mal, wie ruhig sie jetzt dasitzt. Sie hatte wohl wirklich Hunger. Schade, dass dein Vater das nicht mehr erleben kann.«
    »Glaub mir, ich denke jeden Tag an ihn. Es gibt vieles, was ich ihn gerne fragen würde.«
    »Das wollen wir alle, Victor«, sagte Martha, »aber das geht nicht mehr. Ich habe schon vor langer Zeit lernen müssen damit zu leben.«
    Sie war wieder Martha. Oma war weit weg.
    Victor beschloss, das Thema zu wechseln.
    »Ich hab Vater nie kochen sehen«, sagte er.
    »Das hat er auch nicht gemacht. Er kannte nur eines: arbeiten«, sagte Martha.
    »Es hat sich vieles geändert«, sagte Victor.
    »Was meinst du?«
    »Die Väter von heute.«
    »Was schwafelst du

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