Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
Vom Netzwerk:
weißen Umschlag auf. Darin befand sich ein kleines patiniertes Holzkreuz mit einer Christusfigur aus Elfenbein, das legte er in ihre Hände. Sie betrachtete und streichelte es, wie sie gerade seine Hände gestreichelt hatte. »Markus«, sagte sie trocken, so wie »Apfel« oder »Brot«. Ihre Lippen bewegten sich, aber ihr Gesicht drückte nichts aus. Victor war perplex. »Markus hat mich gebeten, dir das zu geben. Er war besorgt, weil er nichts mehr von dir gehört hatte. Ich werde ihm sagen, dass es dir gutgeht.«
    »Markus«, wiederholte sie und streichelte das Kreuz weiter. Victor wollte sich den Umschlag wieder in die Tasche stecken, merkte aber, dass noch eine kleine Karte darin war:
    Liebe Frau Mertens, Lucy,
    ich gebe dir etwas zurück, das mir mein ganzes Leben lang Schutz und Trost gespendet hat. Vor fünfzig Jahren habe ich es von dir bekommen, weil du wolltest, dass es mir gut geht. Ich hoffe, dass es dir genauso viel Freude macht wie mir, und ich wünsche dir gute Gesundheit. In ewiger Dankbarkeit bewahre ich dich immer in meinen Gebeten.
    Gott segne dich!
Markus
    Victor hatte laut vorgelesen, aber nichts an Lucys Haltung hatte sich verändert. Er blieb noch etwa zwanzig Minuten bei ihr sitzen, ihre das Kreuz umklammernden Hände in den seinen. Sein Blick ließ keine Sekunde von ihrem Gesicht ab. »Wer bist du, Lucy? Was hast du erlebt? Wenn du dazu in der Lage wärest, würdest du jetzt antworten. Du würdest antworten, das weiß ich sicher.«
    Er stand auf, legte ihr den Umschlag und die Karte in den Schoß, gab ihr einen langen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. Er fragte den Pfleger, ob er mit seinem Handy ein Foto von ihr machen dürfe.
    »Aber nicht blitzen.«
    Victor machte drei Fotos. An der Tür sah er sich noch mal um. Kurz glaubte er, sie lächeln zu sehen.
    Lilly legte ihren Arm um seine Schultern. Moira wollte nicht weg vom Markt. Sie streichelte Kaninchen und kleine Hunde, lief von einem Vogelkäfig zum nächsten. »Ich nehme alles zurück«, sagte Lilly.
    »Was denn?«
    »All das Gemeine, das ich im Auto auf dem Weg hierher gesagt habe. Es ist eine unheimlich schöne Stadt«, sagte sie. »Aber …«
    »… du würdest hier nicht wohnen wollen.«
    »Genau.«
    »Sie ist zu klein für dich.«
    »Genau«, lachte Lilly.
    »Das war sie im Grunde auch für mich«, sagte Victor.
    »Ich habe auf dem Innenhof deiner alten Schule gestanden«, sagte sie plötzlich und sah ihn an.
    »Und?«
    »Abscheulich. Beängstigend geschlossen. Und im Hauptgang hingen große, trübselige Fotos, lauter ernst dreinschauende Priester und Laien. Keine schöne Galerie.«
    »Und?«
    »Ich musste sofort wieder raus. Ich konnte die beklemmende Atmosphäre nicht ertragen und ich kann mir vorstellen, dass du dort keine glückliche Zeit gehabt hast.«
    »Ich gehe da jedenfalls nie wieder rein«, sagte Victor.
    »Verstehe ich. Komm her, damit ich dich knutschen kann!«
    Victor erzählte die Geschichte von Lucy. Lilly hörte sehr bewegt zu. »Du glaubst gar nicht, wie sehr meinen Vater das freuen wird«, sagte sie.
    »Ich drucke die Fotos aus und schicke sie ihm.«
    »Danke, Victor.«
    »Komm, ich zeige dir noch ein Stück von der Stadt. Dann essen wir etwas und gehen zum Hotel zurück.«
    Moira schlief schwer ein. Victor saß auf dem kleinen Balkon ihres Hotelzimmers und rauchte. Lilly setzte sich neben ihn und sagte, dass sie immer wieder darüber staune, wie viele Eindrücke Moira an solchen Tagen verarbeiten müsse.
    »Geht uns das nicht allen dreien so?«
    »Ich bin müde, aber ich habe überhaupt keine Lust zu schlafen«, sagte Lilly.
    »Möchtest du etwas aus der Minibar?«
    »Nein, danke. Woran dachtest du gerade?«
    »Ich kriege das Bild von Lucy nicht aus dem Kopf. Nicht nur, weil sie wahrscheinlich die schönste alte Frau ist, die ich jemals gesehen habe. Es war eher ihr Blick. Genau in dem Moment, als sie den Namen deines Vaters aussprach, hatte ich den Eindruck, dass sie sich bemühte, einfach weiter geradeaus zu starren. Irgendetwas ging in ihr vor, aber ich konnte es an ihrer Haltung nicht ablesen. Sie zwinkerte zwei Mal mit den Augen. Das hatte sie vorher nicht gemacht. Ich würde einiges dafür geben zu wissen, was sie in diesem Moment gedacht hat.«
    »Wenn man liest, wie mein Vater über sie schreibt, dann ist klar, dass sie wichtig füreinander gewesen sind. Sie war – wie alt? Anfang dreißig, vielleicht zweiunddreißig oder dreiunddreißig? Und er vierundzwanzig. Nicht nur ältere Männer haben

Weitere Kostenlose Bücher