Schweig wenn du sprichst
Dokumente eine Überweisung für einen Empfänger, der mir noch nie untergekommen war. Und es war mir aufgefallen, dass der Betrag ziemlich hoch war.«
»Kennst du den Empfänger noch?«
»Der Sint-Maartensfonds, eine Gemeinnützige Gesellschaft. Dreißigtausend Franken waren viel Geld zu jener Zeit, darum weiß ich es noch so gut.«
»Weißt du noch, wie der Verwendungszeck lautete?«, fragte Victor.
»Transit L.M. «, antwortete Walter, »aber ich habe Albert nie Fragen darüber gestellt.«
»Und kam diese Überweisung jedes Jahr wieder?«
»Jedes Jahr? Jeden Monat, Victor.«
»Und wie lange ging das so weiter?«
»Bis er starb.«
Victor kratzte sich am Kopf.
»Der Fonds unterstützte damals viele Witwen von Ostfrontsoldaten«, fuhr Walter fort, »und Männer, die verletzt oder invalide heimgekehrt waren und kein Einkommen hatten. Auch Waisen von Ostfrontsoldaten bekamen über diesen Fonds Hilfe.«
»Erscheint mir irgendwie logisch, wenn es bei meinen Vater geschäftlich gut lief, dass er das tat«, dachte Victor laut. »Und Martha?«
»Von dem Moment an, als ich für die Gehälter verantwortlich war, habe ich Martha nicht mehr häufig gesehen. Höchstens ein- oder zweimal pro Jahr, beim obligatorischen Essen bei euch zu Hause. Da wirst du dich vermutlich auch noch dran erinnern?«
»Ich war damals eigentlich schon aus dem Haus, aber ich erinnere mich noch lebhaft an diese Festessen.«
»Habe ich deine Fragen beantwortet?«
»Vorläufig ist das alles, Walter. Danke.«
»Wann kommst du wieder einmal vorbei?«
»Wahrscheinlich in ungefähr sechs Wochen. Zum Arbeiten und Recherchieren.«
»Du weißt, wo du mich findest.«
»Klar. Danke, Walter.«
Victor ging in die Küche, um einen Kaffee zu holen, zog sich einen Sweater über das T-Shirt und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Er verschickte eine E-Mail an Jozef, erklärte die Situation und gab ihm die Fakten durch, die er bisher gesammelt hatte. Er beendete seine Nachricht mit der Frage, ob er über die Universität an die Strafakte seines Vaters herankommen könne.
Am selben Abend kam Jozefs Antwort:
Verehrter Victor,
danke für Ihre Mail. Auf den ersten Blick scheint die Karriere, die Ihr Vater gemacht hat, relativ normal zu sein. In Graz war ab Januar 1942 das Ersatzbataillon der Flämischen Legion stationiert, wo die neuen Rekruten ausgebildet wurden, meistens nach einer Vorausbildung in Sennheim. Der Grund, warum Ihr Vater direkt nach Graz gefahren ist, kann damit zusammenhängen, dass er schon bei seiner Abreise, dank seines Studienabschlusses, für eine schnelle Weiterleitung an die Offiziersausbildung ausgewählt worden war. Flämische Legionssoldaten, die später an der Front verwundet oder ernsthaft krank wurden, landeten ebenfalls über die Lazarette in Graz. Das erklärt die beiden Aufenthalte Ihres Vaters, die Sie herausgefunden haben.
Atypischer ist seine Gefangennahme. Legionssoldaten hatten sich normalerweise »für Kriegsdauer« verpflichtet, und am Tag seiner Gefangennahme hätte Ihr Vater eigentlich irgendwo an der Oderfront liegen müssen. Über die Gründe, warum er nicht dort war, erhalten wir nur nach Einsicht in seine Strafakte mehr Informationen. Die Probleme, auf die Sie diesbezüglich stoßen, sind auch normal.
Von der Universität aus machen wir seit mehr als zwanzig Jahren Lobbyarbeit, um den Zugang für Familienmitglieder zu vereinfachen. Wir verfügen in unseren Archiven über knapp siebenhundert Akten (auf Nachfrage hat sich herausgestellt, dass die Akte Ihres Vaters bedauerlicherweise nicht dabei ist), aber die meisten betreffen Legionäre ohne lebende Familienangehörige. Die Behörden waren lediglich dazu bereit, diese Akten für unsere Forschung freizugeben.
Ihre direkteste Informationsquelle ist tatsächlich das Kollegium der Oberstaatsanwälte, aber ich weiß aus Erfahrung, dass dieses Kollegium nicht geneigt ist, auf Fragen von Familienmitgliedern einzugehen. Ich habe einem meiner Mitarbeiter den Auftrag erteilt, eine Argumentation aufzubauen. Die soll es ermöglichen, später über die Universität die Akte für Sie anzufordern. Ich kann leider nichts versprechen: Es wird viel von der Formulierung der Anfrage abhängen und es dauert mindestens drei bis vier Monate. Aber ich mache das gerne und werde die Sache persönlich weiterverfolgen. Ich lasse Sie wissen, wenn Bewegung in die Sache kommt.
Würden Sie Markus meine aufrichtigen und herzlichen Grüße ausrichten? Und ich wünsche Ihnen noch eine
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