Schweig wenn du sprichst
Angst ist das, was Victor hat.«
»Wovor denn, Victor?«, fragte Andrea.
Lilly antwortete für ihn: »Er hat Angst vor dem, was er über seinen Vater herauszufinden glaubt. Ich habe ihm gesagt, dass Angst vor der Zukunft oft eine andere Angst verbirgt.«
»Und ich habe geantwortet, wenn man in der zweiten Hälfte seines Lebens ist, wird die Angst vor der Zukunft gegen verborgene Ängste aus der Vergangenheit eingetauscht«, übernahm Victor.
»Verstehst du diesen unbedingten Drang, etwas genau wissen zu wollen, Lilly? So wie bei Stefan und Victor? Die sind doch besessen. Die kennen kein Halten mehr«, fragte Andrea.
»Natürlich verstehe ich das. Ich sage nicht, dass es sehr angenehm ist mit jemandem zusammenzuleben, der durch so einen Prozess geht, aber verstehen kann ich es schon. Für Männer muss alles viel klarer umrissen sein. Sie fühlen sich offenbar, aus welchem Grund auch immer, historisch verantwortlich und nehmen alles viel persönlicher. Das hat natürlich alles mit ihrem Ego zu tun«, lächelte Lilly, »aber so funktionieren sie nun mal.«
»Interessant, dabei zu sein, wenn Frauen über Männer reden«, sagte Victor.
Andrea gähnte.
Stefan verabschiedete sich und ging nach Hause.
»Übernachte doch bei uns, Andrea«, sagte Lilly.
»Echt?«
»Natürlich. Wo willst du denn jetzt hin? Bleib hier, wir sprechen im Bett weiter.«
»Und Victor?«
»Ich schlafe bei Moira«, sagte Victor. »Ich habe sowieso die Morgenschicht.«
»Morgenschicht?«
»Moira ist morgens so gegen sechs Uhr wach. Wir wechseln uns jeden Tag mit der Morgenschicht ab, sodass der andere weiterschlafen kann. Und ich möchte sowieso früh mit der Arbeit anfangen.«
»Komm«, sagte Lilly, »Frauenzeit!«
Victor räumte die Küche auf und schlief eine halbe Stunde später wie ein Stein neben Moira ein.
Als Victor am nächsten Morgen mit Moira an der Hand in die Küche kam, machten Lilly und Andrea gerade Frühstück.
»Guten Morgen, ihr Freundinnen. Noch lange gequatscht?«, fragte Victor.
»Stunden«, sagte Andrea. »Wie in der guten alten Zeit.«
»Wann ist unsere kleine Maus aufgewacht?«, fragte Lilly.
»Wie immer, aber sie hat bestimmt noch eine halbe Stunde allein in ihrem Bett gespielt. Und sie hat schon gefrühstückt«, sagte Victor. »Aber ich noch nicht. Kriege ich auch was?«
»Was möchtest du denn?«
»Hau mal ein oder zwei Eier mehr in das Omelett«, sagte Victor. Er nahm auf der Bank Platz und Moira stellte sich mit einem Buch neben ihn. »Papa lesen.«
»Papa kann nach seinem zweiten Kaffee für dich lesen, Schatz. Lies du doch mal dem Papa was vor.«
»Tafohn«, sagte sie.
Victor blockierte die Tastatur seines Handys und gab es Moira. Sie fing sofort an, Leute anzurufen. »Gab es 1945 schon Abtreibungen?«, fragte er.
»Ist es nicht ein bisschen früh für so ein Thema?«, fragte Lilly.
»Ich bin schon seit zwei Stunden wach«, sagte Victor.
»Als medizinischer Eingriff, denke ich schon«, sagte Andrea. »Als Mittel zur Geburtenregelung in dieser Zeit, glaube ich nicht. Warum?«
»Vielleicht wollte meine Mutter gar kein Kind«, sagte Victor. »Das würde vieles erklären. Vielleicht wollte sie mich gar nicht.«
Lilly schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Würdest du dein Baby behalten, wenn du keinen Partner hättest, Andrea?«, fragte Victor.
»Komm schon, hör auf damit. Du gehst zu weit«, sagte Lilly böse.
»Nein, es ist okay. Lilly, wirklich – es macht mir nichts aus, darüber zu sprechen.«
»Na, dann«, sagte Lilly und verteilte das Omelett auf die drei Teller.
»Ich habe einen Partner, deshalb kann ich mich schlecht in die Lage deiner Mutter versetzen. Ob ich mein Leben mit ihm teilen möchte, ist allerdings eine ganz andere Frage. Das wird die Zukunft zeigen. Aber selbst wenn ich keinen Partner hätte, glaube ich, dass ich dieses Kind behalten würde, ja.«
»Du entscheidest dich also für das Kind, obwohl du eine Alternative hast. Meine Mutter hatte zwar auch einen Partner, der allerdings sehr lange nicht für sie da war, aber sie hatte trotzdem keine Alternative. Auch wenn die medizinische Möglichkeit zur Abtreibung bestand, glaube ich, dass sie wegen ihrer Erziehung, den damaligen Verhältnissen und vor allem wegen der Haltung der Kirche ihre Schwangerschaft niemals abgebrochen hätte. Auch wenn sie selbst vielleicht lieber kein Kind bekommen hätte, um Albert nicht zu verlieren, hätte sie ihre Schwangerschaft trotzdem fortgesetzt. Wenigstens sagt mir das mein
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