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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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und auch noch eine Kugel aus dieser Entfernung auf ihren Kopf abgefeuert … Nein, er durfte nicht abdrücken. Was für eine entsetzliche Situation!
    Plötzlich sah er nur noch Wald durch sein Glas. Heinbichler blickte von seinem Okular auf. Xaver war zwei Schritte zurückgewichen und hatte den Lauf seiner Waffe ein wenig gesenkt. Die Mündung war noch immer auf die Frau gerichtet, aber nicht mehr auf ihren Kopf. Sie stand still. Ihre Stimme war nicht mehr zu hören. Es vergingen endlose Sekunden. Heinbichler fixierte Xaver erneut durch sein Zielfernrohr. Der Lauf von Xavers Jagdgewehr sank weiter und war nun gänzlich zur Erde gerichtet. Die Stimme der Frau war wieder zu vernehmen. Wenn er nur etwas verstehen könnte! Ein metallisches Klicken klang über die Lichtung. Xaver hatte die Hähne entspannt. Heinbichler ließ seine Waffe sinken, sicherte sie geräuschlos und legte sie neben sich ab. Und jetzt? Was würde jetzt geschehen?
    Er wartete und beobachtete. Die Frau war in die Hocke gegangen und deutete auf irgendetwas im Gras. Xaver rührte sich nicht von der Stelle. Jetzt wischte er sich mit der linken Hand übers Gesicht. Plötzlich fuchtelte er mit den Armen. Die Frau hatte einen Bohrstock aufgehoben und mit der Spitze nach unten auf die Wiese gestellt. Xavers heftige Reaktion ließ sie innehalten. Er stürzte auf sie zu und zog sie zur Seite. Heinbichlers Miene verfinsterte sich. Seine Gedanken schossen in derart viele Richtungen gleichzeitig, dass er sich zu keiner Handlung durchringen konnte. Ein Unheil war offenbar vermieden worden. Aber bahnte sich dort möglicherweise gerade ein zweites, weitaus schlimmeres an?

7
    J etzt wirst du sterben, brüllte etwas in ihr. Ihre Knie knickten ein. Dann geschah etwas Seltsames: In dem kurzen Augenblick, da sie sicher war, sterben zu müssen, überflutete eine Explosion von Wahrnehmungen ihr Bewusstsein. Es war ein furchterregendes und zugleich erlösendes Gefühl, das wohl kaum mehr als eine Sekunde andauerte. Doch die Intensität der Empfindung machte jedes Zeitmaß unerheblich. Dann übernahm irgendein Instinkt in ihr. Sie blieb ruhig stehen, suchte über die auf sie gerichtete Gewehrmündung hinweg Blickkontakt zu Xaver Leybach und sagte nur: »Xaver, warum zielst du auf mich?«
    Er starrte sie an, die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht von schweren Atemzügen.
    »Ich bin’s doch nur«, sprach sie ruhig weiter. »Die Anja. Du kennst mich noch, nicht wahr? Die Grimm Anja, Xaver. Aus München. Wir sind doch alte Freunde. Warum zielst du auf mich?«
    Der Gesichtsaudruck des Mannes änderte sich nicht. Aber er senkte den Lauf ein wenig.
    »Kein Wunder, dass du mich nicht gleich erkannt hast«, fuhr sie fort. »Ich bin jetzt erwachsen. Eine Frau. Aber ich kenne dich noch.«
    Sie ließ auch auf diesen Satz eine längere Pause folgen, um ihm Zeit zu geben, die Information zu verarbeiten. Die Anspannung, unter der er offensichtlich stand, verminderte sich nicht. Aber die Starrheit seiner Augen milderte sich ein wenig, auch wenn er sie noch feindselig und zornig anblickte.
    »Du hast dich ja auch verändert mit den Jahren.«
    Keine Erwiderung. Verstand er sie überhaupt? Zweifellos besänftigte es ihn, wenn sie sprach. »Ich bin nur hier, um nach dem Waldboden zu sehen«, fuhr sie fort und deutete zaghaft in die Umgebung.
    Er zuckte kurz zusammen, ließ das Gewehr jedoch hängen.
    »Der Waldboden«, wiederholte sie.
    Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und gab einen mürrischen Laut von sich.
    »Schau«, sagte sie, ging in die Knie, hob betont langsam ihren Bohrstock auf und stellte ihn vor sich hin. »Ich nehme nur etwas Erde mit, um zu schauen …«
    Weiter kam sie nicht. Plötzlich stürzte er auf sie zu, schlug ihr den Bohrstock aus der Hand, griff sie am Arm und zerrte sie ein paar Meter von der Stelle weg. Sie leistete keinen Widerstand.
    Er ließ ihren Arm wieder los, trat zwei Schritte zurück und sagte plötzlich: »Niemand darf hier sein. Vater hat es verboten.«
    Seine Stimme war rauh und scharrend, wie bei jemandem, der sich räuspern sollte und es nicht tat. Anja hob entschuldigend die Hände und pflichtete ihm bei. »Ja, natürlich, Xaver. Das wusste ich nicht. Und wenn dein Vater es verboten hat, müssen wir ihm natürlich gehorchen.«
    Er kaute auf seiner Unterlippe. »Niemand darf hier sein«, stammelte er. »Niemand.«
    »Ja, Xaver. Natürlich.«
    Anja wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Sie dachte an Obermüller, der

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