Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
telefonierte der Bulle mit dem Klemmbrett da? Er stand vor der geöffneten Bustür und sprach in sein Handy oder Funkgerät. Einer der drei anderen hatte ihr Jagdgewehr gefunden und trug es soeben in den anderen Polizeiwagen. Dann entfuhr ihr ein leiser Schrei. Ihre Tasche! Der Mann, der telefonierte, war zur Seite getreten, und sie konnte sie geöffnet auf dem Fahrersitz liegen sehen. Auch die grüne Dose lag geöffnet da. Und ihre Notizen, die sie sich bei Skrowka gemacht hatte.
Sie zerrte an ihren Handschellen, aber das war natürlich sinnlos. Einige Sekunden lang gelang es ihr, ihre Situation halbwegs objektiv zu überdenken. Dann überwältigte sie Panik. Das war keine Verkehrskontrolle. Das war etwas ganz anderes. Tränen der Angst traten ihr in die Augen. Hilflos versuchte sie sich einzureden, dass sie phantasierte, dass es sich doch nur um eine Kontrolle handelte, die aus dem Ruder gelaufen war, weil sie unklug reagiert und die Polizisten gereizt hatte. Aber im nächsten Augenblick fiel diese schöne Theorie wie ein Kartenhaus zusammen. Nein. Das hier war nicht normal. Die hatten sie angehalten, um ihren Wagen zu durchsuchen. Und jetzt holten sie sich Anweisungen, wie sie mit ihr verfahren sollten.
Halb krank vor Angst beobachtete sie den Polizisten mit dem Telefon. Er hörte jetzt nur noch zu und nickte mehrmals. Dann legte er auf und machte seinen Kollegen ein Zeichen, das offenbar Aufbruch bedeutete. Sie schlossen die Türen ihres Busses. Der Mann, der sie an den Haaren gezogen hatte, nahm vor ihr Platz. Die anderen drei stiegen in den zweiten Polizeiwagen.
»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte sie. Sie konnte kaum sprechen, so ausgetrocknet war ihr Mund vor Angst.
»Na, wenn Sie uns sagen, wo Sie wohnen, dann wäre das vielleicht ganz hilfreich, oder?«
»Waldmünchen«, sagte sie sofort. »Ölbergstraße.«
Es fiel ihr nur die Forstamtsadresse ein. Bloß weg von hier, flehte sie innerlich. In eine beleuchtete Straße in einer beleuchteten Stadt.
»Na also.«
Das Funkgerät rauschte und piepte. Dazwischen gingen Meldungen ein, die Anja aufgrund des Dialekts beim besten Willen nicht verstehen konnte. Der Wagen vor ihnen fuhr los. Nach einigen Metern erlosch das Blaulicht. Ihr Fahrer drückte auf einen Knopf, und die Lichtblitze in der Umgebung erloschen nun ebenso. Anja sah nach hinten. Alles war schwarz. Nirgendwo waren Autoscheinwerfer zu sehen.
»Sie fahren mich also nach Hause?«, fragte sie.
»Was sollen wir denn sonst mit Ihnen machen? Wollen Sie lieber im Wald übernachten?«
»Und mein Auto?«
»Das können Sie morgen abschleppen lassen.«
Die üble Nachricht beruhigte sie seltsamerweise. War das alles? Die ganze Aufregung nur deshalb?
»Weiß Ihr Kollege denn, wo ich wohne?«
Der Mann erwiderte nichts.
»Ihr Kollege weiß doch gar nicht, wohin er fahren soll«, wiederholte sie.
»Wir fahren Sie schon nach Hause. Jetzt seien Sie bitte mal still, ja.«
Anjas Herz begann wie rasend zu schlagen. Noch wusste sie, wo sie sich befand. In spätestens zwei Kilometern Entfernung müssten sie links abbiegen, um nach Waldmünchen zu kommen. Plötzlich verlangsamte sich der Wagen vor ihnen und fuhr rechts ran. Anja sah, dass der Fahrer wieder telefonierte. Sie hielt das nicht mehr aus. Was um alles in der Welt geschah hier? Sie versuchte, ihre Panik zu kontrollieren, aber es gelang ihr immer weniger. Ihre gefesselten Handgelenke schmerzten. Konnte sie sich vielleicht aus dem Wagen herausrollen und in den Wald flüchten? Aber sie hatte ja nicht einmal eine Hand frei, um die Tür zu öffnen. Und die war außerdem bestimmt verriegelt.
Der Wagen vor ihnen fuhr wieder an. Anja schloss die Augen und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Das fand alles nur in ihrem Kopf statt, versuchte sie sich erneut einzureden. Sie war schließlich in Deutschland. Das waren Polizisten. Staatsbeamte. Die würden ihr nichts tun. Das passierte nur in Filmen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren einfach zu viel für sie gewesen. Der Besuch in Flossenbürg. Skrowkas entsetzliche Geschichten. Das Foto von dieser Johanna Ruschka. Und dann die Pflanzenspuren. Wie immer das alles zusammenhing – es konnte nichts mit dieser Situation zu tun haben. Oder doch? War sie beobachtet worden? Wollte ihr jemand Angst einjagen? Steckte dieser unsympathische Polizist hinter dieser Aktion? Dieser Dallmann?
Die Abzweigung nach Waldmünchen tauchte in der Entfernung auf. Der Wagen vor ihnen hielt an, blinkte nach links und bog ab.
Weitere Kostenlose Bücher