Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
dass er tatenlos hier herumsaß, nicht der beste Beweis dafür? Nein! Und es war noch nicht zu spät. Er würde ihr hinterherfahren. Jetzt gleich. Bevor diese Sache noch weiter gärte, würde er ihr alles sagen. Und dann würde er sie zu seinen Eltern bringen. Jetzt musste alles auf den Tisch. Was wussten sie? Er würde ihr alles beichten. Und dann sollten seine Eltern Rede und Antwort stehen. Und auch Großvater Albrecht. Wenn es sein musste, würde er auch diese Gneisblöcke im Greiner Bühl wegschaffen und nachschauen, ob etwas an der Sache dran war.
Was hatte er denn schließlich getan? Sie waren es doch, die an allem schuld waren.
Er startete den Wagen und fuhr los. Plötzlich fühlte er sich, als sei ein tonnenschweres Gewicht von ihm abgefallen. Ja, er würde ihr alles sagen.
Und wehe, seine Eltern hatten ihn angelogen und ihm nicht alles erzählt, was sie wussten. Das würden sie bereuen. Wie hatte er Anja überhaupt wegfahren lassen können? Er drückte aufs Gaspedal und starrte über den Lichtkegel der Autoscheinwerfer in die Dunkelheit auf der Suche nach ihren roten Rücklichtern. Sehr weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Es waren acht Kilometer bis zur nächsten Abzweigung. Er musste sie vorher erreichen. Er beschleunigte. Die Tachonadel näherte sich der Hundertzwanzig. Aber das war hier kein Problem. Die Strecke war frei. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen. Er fuhr noch etwas schneller, als sein Handy plötzlich wieder zu klingeln begann. Er fluchte leise, drosselte die Geschwindigkeit, holte das Gerät aus seiner Tasche und schaute auf die Anzeige. Es war die Nummer des Apparats vom Gollashof. Während er noch zögerte, den Anruf anzunehmen, sah er vor sich auf einmal den verräterischen Schein von zuckendem Blaulicht. Er bremste scharf und fuhr rechts heran. Das fehlte ihm jetzt noch. Ein Strafzettel wegen Telefonierens am Steuer. Er konnte nicht sehen, was dort vorne los war, denn der Polizeiwagen musste hinter der nächsten Kurve stehen. Er drückte die Annahmetaste auf seinem Handy.
»Ja?«
»Wo bist du?«, hörte er die Stimme seines Vaters. »Mama hat gesagt, du würdest gleich kommen.«
»Ich bin auf dem Weg. In fünfzehn Minuten bin ich da. Was ist denn überhaupt los? Ist etwas passiert?«
Sein Vater antwortete nicht gleich. Lukas lauschte angestrengt in den Hörer. »Papa?«, insistierte er. »Ist etwas passiert?«
»Noch nicht, so Gott will«, erhielt er zur Antwort. »Weißt du, wo die Anja ist?«
»Was habt ihr denn nur plötzlich alle? Was soll denn mit ihr sein?«
»Mach, dass du herkommst. Und bring sie mit.«
Lukas verstand gar nichts mehr. Er warf das Telefon wütend auf den Beifahrersitz, prüfte mechanisch, ob er angeschnallt war, und beschleunigte wieder. Er fuhr langsam auf die Kurve zu, hinter der unvermindert Blaulicht in der Dunkelheit zuckte. Der Anblick, der sich ihm bot, als er um die Kurve herum war, überrumpelte ihn derart, dass er eine Vollbremsung hinlegte. Anjas Bus stand am Straßenrand, eingekeilt zwischen zwei Polizeiwagen. Nach dem ersten Schreck fuhr er langsam wieder an und rollte im Schritttempo näher an die Wagen vor ihm heran. Plötzlich blendete ihn der Schein einer starken Lampe. Zwei Polizeibeamte traten forsch an sein Fahrzeug heran. Einer klopfte energisch gegen die Scheibe. Er öffnete einen Spalt weit.
»Haben wir Sie vielleicht angehalten?«, schnauzte der Beamte ihn an. »Fahren Sie weiter.«
»Ich dachte, hier ist ein Unfall passiert?«, erwiderte er.
»Verkehrskontrolle. Fahren Sie weiter. Sie gefährden sich und andere, wenn Sie hier in der Kurve stehenbleiben. Los!«
Lukas fuhr so langsam er konnte an den drei Wagen vorbei. Jetzt sah er Anja. Sie stand neben ihrem Bus und redete mit erregten Gesten auf einen Polizisten ein, der ein Klemmbrett hielt und sich ungerührt Notizen machte. Anja schien ihn gar nicht zu bemerken, so eindringlich sprach sie auf den Beamten ein. Doch plötzlich sah sie zu ihm hin. Sie hielt inne. Auf einmal rannte sie auf ihn zu. Der Polizeibeamte mit dem Klemmbrett fuhr herum und schrie irgendetwas. Lukas trat auf die Bremse. Anja riss die Beifahrertür auf.
»Lukas, kannst du bitte auf mich warten? Die wollen meinen Wagen stilllegen.«
Weiter kam sie nicht. Die zwei Polizisten, die zuvor Lukas zum Weiterfahren aufgefordert hatten, bauten sich neben ihr auf und drängten sie unsanft von Lukas’ Wagen zurück.
»Lassen Sie mich!«, schrie sie wütend und stieß den Polizisten von
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